: Mit marktwirtschaftlichen Mitteln Migrantenpolitik betreiben
■ In Amsterdam betreibt ein Dienstleistungszentrum für In-und AusländerInnen seit Jahren erfolgreiche Immigrantenpolitik/ Vorbild für ein multikulturelles Ressort in Berlin? INTERVIEW
Seit neun Jahren berät das »Amsterdams Centrum Buitenlanders« (Amsterdamer Zentrum für Ausländer, ACB) In- und AusländerInnen der Stadt. Die MitarbeiterInnen unterstützen und beraten bei der Gründung von MigrantInnenorganisationen und Projekten, sei es nun eine surinamische Radiostation, ein marokkanisches Badehaus oder ein mobiles Arbeitsamt. Der ACB wird von der Gemeinde Amsterdam finanziell unterstützt. Man versteht sich ausdrücklich nicht als Betreuungsstelle für Einzelpersonen, sondern als Dienstleistungszentrum für MigrantInnen. Das umfaßt auch politische Arbeit: Bei den letzten Kommunalwahlen bot das ACB allen ausländischen KandidatInnen Unterstützung beim Wahlkampfmanagement an. Ein taz-Interview mit dem ACB-Sprecher Gijs von der Fuhr.
taz: Würde es Sie in der gegenwärtigen Situation reizen, in Berlin zu arbeiten?
Gijs von der Fuhr: Das wäre schon eine Herausforderung — gerade jetzt, wo die Deutschen glauben, sie leben nicht mehr in der Welt, sondern die Welt spielt sich in Deutschland ab. Ich habe Verständnis dafür, daß die Vereinigung jetzt im Vordergrund steht. Aber die Arbeit für die Emanzipation von Minderheiten muß weitergehen, zumal hier noch das Problem der Ausländerpolitik der ehemaligen DDR dazukommt. Minderheitenpolitik ist keine politische Dekoration, sondern eine Investition in die Zukunft. Wobei ich hier ausdrücklich Migrantenpolitik, und nicht Ausländerpolitik meine. Es geht hier um Menschen, die als MigrantInnen eine eigene Identität entwickelt haben. Und wer diesen Politikbereich vernachlässigt, handelt sich massive Probleme ein.
Die Existenz des ACB zeigt, daß man das in Amsterdam offenbar schon vor Jahren begriffen hat...
Man hat es begriffen, aber natürlich nicht nur aus moralischen Gründen. Einen moralischen Aspekt gibt es zwar immer in der holländischen Politik. Aber letztlich geht es um die Ökonomie. In Amsterdam stellen die ImmigrantInnen 20 Prozent der Gesamtbevölkerung. In den Schulen sind 43 Prozent der SchülerInnen Kinder von marokkanischen, türkischen oder surinamischen Eltern. Momentan stellt sich folgende Situation: Wir haben in Amsterdam 70.000 Arbeitslose mit einem hohen Prozentsatz an AusländerInnen, einen enormen Mangel an Fachleuten, und 70.000 Pendler, die jeden Morgen in die Stadt zum Arbeiten fahren. Gleichzeitig gibt es 50.000 offene Stellen, die mangels qualifizierter Kräfte nicht besetzt werden können. Jetzt gibt es zwei Optionen: Mehr Pendler hereinlocken, die jeden Tag mit ihren Autos in die Stadt rollen, ihr Einkommen aber wieder mit rausnehmen. Das würde eine fortschreitende Verarmung der Stadt bedeuten. Oder wir investieren langfristig in unser Bildungs- und Erziehungssystem, vor allem aber in die ausländischen SchülerInnen. In die ImmigrantInnengemeinden zu investieren, bedeutet, in die Stadt zu investieren. Das bedeutet natürlich auch: gleiches Wahlrecht für alle, Gleichberechtigung auf dem Arbeitsmarkt durch »affirmative action«.
Viele Leute, die sich hier in der ImmigrantInnenarbeit engagieren, würden bei soviel ökonomischem Kalkül angewidert den Mund verziehen...
Das ist doch Blödsinn. Wenn sich in einer Stadt viele EinwandererInnen angesiedelt haben, dann doch aus ökonomischen Gründen. Und ihre Einwanderung verändert auch das ökonomische Bild. Ich will etwa unsere Supermarktketten oder unsere Betriebe zu der Einsicht bewegen, daß die ImmigrantInnen in unserer Stadt jedes Jahr 700 Millionen Gulden allein für Essen und Trinken ausgeben. An diesen Umsätzen sind sie interessiert.
Die Marktwirtschaft als Hebel, um ImmigrantInnenpolitik durchzusetzen?
Klar. Unsere größte Lebensmittelkette hat längst begriffen, daß man einen solchen Kundenkreis nicht vernachlässigen darf. Wir leben schließlich in einer Konsumgesellschaft. Zweitens hat die Geschäftsleitung große Schwierigkeiten, ausgebildetes Personal zu finden. Es gibt jede Menge ImmigrantInnen, die für diese Berufe geeignet wären, aber nicht die entsprechenden Qualifikationen aufweisen. Also hat man entschieden, auf Qualifikationsnachweise zu verzichten, und Leute nach Fähigkeiten einzustellen und zu befördern...
Wie kann eine Institution wie der ACB Druck auf Arbeitgeber ausüben, mehr MigrantInnen einzustellen?
Ein Beispiel: In einem großen Amsterdamer Krankenhaus sind verstärkt Probleme aufgetreten, weil unter den Patienten zunehmend MarokanerInnen und TürkInnen sind. Es gab Verständnisschwierigkeiten nicht nur sprachlicher, sondern auch kultureller Art. Wir sind also hingegangen, haben Schulungen für das Personal angeboten. Gleichzeitig haben wir der Geschäftsleitung nahegelegt, mehr marokkanische, türkische, surinamische ÄrztInnen und KrankenpflegerInnen einzustellen. Wenn sich das herumspricht, steigert das auch die Attraktivität des Krankenhauses. Also reden wir mit der Krankenhausschule, wie sie mehr MigrantInnen werben kann. Dann wird mit dem Management geredet — und am Schluß erarbeiten wir für das Krankenhaus einen exakt zugeschnittenen Umsetzungs- und Managementplan. Die zahlen natürlich dafür. Man muß das auf eine kommerzielle Ebene heben. Wir liefern ein Produkt, das Qualität hat. Wir sind schließlich kein Verein blauäugiger Ritter.
Wie erreichen Sie Ihre »Kundschaft«?
Eines ist für uns klar: Es hat absolut keinen Zweck, die MigrantInnen in irgendwelche Programme einzubeziehen als wären es HolländerInnen. Es ist zum Beispiel Unsinn, türkische und marokkanische Haushalte in eine Briefkampagne miteinzubeziehen, solange erstens viele dieser Leute AnalphabetInnen sind und zweitens ein Brief von der »Obrigkeit« bei ihnen sehr viel weniger Bedeutung hat als bei HolländerInnen. Der ACB hat ein Programm entwickelt, mit dem die eigenen sozialen Strukturen der MigrantInnen genutzt werden, um mit ihnen zu kommunizieren. Das funktioniert bestens. Aber man muß eigene ideologische Scheuklappen ablegen. Wir können uns zum Beispiel nicht hinstellen und sagen, wir wollen nichts mit Moscheen zu tun haben. Moscheen sind Zentren der Kommunikation. Vierzig Prozent der Leute gehen in die Moschee und der Imam hat einen großen Einfluß auf sie. Wenn der in seinem Freitagsgebet sagt: Paßt auf, nächste Woche sind Gemeindewahlen und Ihr dürft und sollt wählen gehen, dann haben wir eine hundertprozentige Resonanz. Das hat im übrigen dazu geführt, daß sich jetzt auch die politischen Organisationen der MigrantInnen viel mehr mit ihren eigenen kulturellen Wurzeln befassen. Andersrum befassen sich die Moscheen jetzt viel mehr mit den alltäglichen sozialen Problemen ihrer Gläubigen.
Wo stößt die Solidarität auf Grenzen, wo gibt es Konflikte?
Immer da, wo die Wurzeln meiner Kultur verletzt werden. Während der Rushdie-Affäre etwa kam eine sehr wichtige marokkanische Organisation zu mir und forderte, die »Satanischen Verse« müßten verboten werden. Ich habe ganz klar gesagt: »Wenn Ihr dieses Buch verbieten wollt, verletzt Ihr die Wurzeln meiner Kultur. Dieses Buch wird erscheinen. Wenn es etwas Beleidigendes enthält, dann gehen wir zum Gericht und erstatten Anzeige.«
Wie haben die Leute reagiert?
Keineswegs negativ. Es gab ja vorher keinen, der ihnen diesen Standpunkt mal klar gemacht hat. Und genau das kotzt mich bei vielen Leuten an, die in der Ausländerarbeit engagiert sind: Beim Wort »Ausländer« kriegen sie leuchtende Augen, aber sie nehmen sich nicht die Zeit, ihre eigene Kultur den MigrantInnen zu erklären. Dazu gehört Meinungs- und Organisationsfreiheit, die vor einem bestimmten kulturellen Hintergrund entstanden ist. Das muß erklärt werden.
Nun haben gerade die Deutschen — ob auf der rechten oder linken Seite — besondere Schwierigkeiten, ihre Kultur differenziert zu vermitteln...
Weil es eine überideologisierte Gesellschaft ist. Probleme werden bei euch unglaublich oft auf die politisch- ideologische Ebene gehoben, laut diskutiert, ohne daß nach einer pragmatischen Lösung gesucht wird. Bei der MigrantInnenpolitik der deutschen Gewerkschaften sehe ich noch relativ pragmatische Ansätze, aber bei der linken Bewegung frage ich mich manchmal wirklich: Wollen die mit ihrer MigrantInnenpolitik Erfolg haben, oder wollen Sie bloß Recht haben?
Nun werden in Berlin zwei Stadtteile vereinigt, die völlig unterschiedliche Strukturen und in denen In- und AusländerInnen ganz unterschiedliche Erfahrungen miteinander gemacht haben. Wie muß man hier antirassistische Politik machen?
Ich will hier keine Ratschläge geben. Drei Punkte dazu: Ich habe auf einem Kongreß der Ostberliner Ausländerbeauftragten im Oktober überhaupt erst vollends begriffen, welche Schweinereien in der DDR mit ausländischen Arbeitskräften angestellt wurden. Daß diese Leute jetzt nach Hause befördert werden, halte ich für einen Skandal. Da sind vor allem die Liberalen in Westdeutschland gefordert, das zu unterbinden. Andererseits habe ich auf diesem Kongreß auch erlebt, daß es in und außerhalb der Betriebe offenbar Deutsche — übrigens meistens Frauen — gibt, die das nicht mitansehen und sich für ihre vietnamesischen oder mosambikuanischen Kollegen einsetzen nach dem Motto »Mach meinen Kumpel nicht an«. Da haben sich solidarische Strukturen herausgebildet. Die muß man unbedingt unterstützen, denn die sind durch keine westliche Organisation zu ersetzen. Drittens hoffe ich, daß die beiden Ausländerbeauftragten in Ost- und West-Berlin genügend Handlungsspielraum bekommen. Interview: Andrea Böhm
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