Ariane auf Aulis

■ Mnouchkines Sonnentheater spielt die „Atriden“ von Euripides und Aischylos

Das größte Pläsier für die Seele ist“, so Voltaire, „eine gut gespielte Tragödie.“ Hier haben wir eine. Ariane Mnouchkines Sonnentheater versucht sich in diesem Herbst an den Atriden. Eine Tragödie von Euripides und drei von Aischylos, gut zwölf Stunden Menschenleben unterm Götterhimmel, Glaube, Liebe, Verrat, Schuld und Sühne, zweieinhalbtausend Jahre alt — und ein ausverkauftes Haus bis Mitte Februar.

Eigentlich, sagt die Mnouchkine, wollte ihr „ThéÛtre du Soleil“ ein Stück über die Résistance inszenieren. Als Gegengift zum gegenwärtigen de Gaulle-Kult in Frankreich. „Aber beim Arbeiten erschien es uns notwendig, zunächst wieder an die Quellen des Theaters zurückzugehen. Genauso wie wir uns dem Kambodscha von Norodom Sihanouk nur nähern konnten, indem wir den Umweg über das England Shakespeares gingen.“ Seit 1964 versucht die Truppe (eine der letzten in der Stadt, die diesen Namen noch verdient und mehr ist als eine flüchtige Gruppierung von Einzelkämpfern) sich im Erzählen von Geschichte und müht sich ab auf der Suche nach Wahlverwandtschaften. Nun haben sich die Zeiten, wo ein 1789 nur auf die Bühne gebracht werden mußte, um vom Peuple verstanden zu werden, in andere Weltgegenden verzogen. Die Pariser Kritiker — und mit ihnen das Publikum — wandten sich gähnend vom Historizismus einer Indiade oder dem Weihnachtsmärchen der Nuit miraculeuse ab und den Müller, Kantor, Koltès zu, also einem Theater, dem Geschichte kein Werden, sondern ein Nichtendenwollen ist. So ist Mnouchkines Rückkehr zu den Urvätern des Theaters wohl auch ein Rückzug vor einem Thema (Vichy-Résistance), das leicht zum Historienbild hätte erstarren können.

Iphigenie auf Aulis. Eine Arena vor tiefblauem Grund. Wie in der Tauromachie Schauplatz von Leben und Tod, moralfreier Raum des Immergleichen in ständiger Variation. Da ist die götterverdammte Familie, die Atriden. Klytaimestra, die große Schöne; Iphigenie, ihre Tochter, ein elfenhaftes Geschöpf, und — Agamemnon. Der kauert am Boden, unter der Bürde von mächtiger Perücke, schwarzem Gewand und düsteren Gedanken. Die eigene Tochter will er opfern, um den Göttern Wind abzukaufen, Wind, um nach Troja zu segeln und dort um eine Frau Krieg zu führen. „Es geht um den Krieg zwischen Männern und Frauen, der äußerst gewaltsam ist bei Euripides und Aischylos. Auch um innere Kriege, innerhalb einer Familie oder derselben Gruppe von Menschen: ein Thema, das eigentlich in allen unseren Stücken auftaucht und von Anfang an Teil des griechischen Theaters war“, sagt Ariane Mnouchkine. Auf der Empore zur Rechten ist ein Höllenorchester aufgebaut, aus Pauken, Zirpmaschinen, Rasseln und Rekordern — allein Jean- Jacques Lemetres Beschallung lohnt die Reise nach Vincennes. Es paukt immer heftiger, und plötzlich scheint das Ramayana-Theater in die griechische Arena einzubrechen: Ein Gewoge von balinesischen Tempeltänzerinnen, weiß geschminkt, mit mächtigen Helmen und klimpernden Brustgehängen, stampft einen wilden Rhythmus. Dieser Chor der „Frauen von Chalkis“ (überwiegend von Männern gespielt) wird die Atriden durch diese Corrida des Euripides begleiten, ironisierend, kommentierend, sympathisierend und derwischhaft wirbelnd. Manchmal wie die Banderilleros aus der sicheren Entfernung ihrer Bretterwand, manchmal voll naiver Teilnahme am grausigen Geschehen wie ein Spanientourist bei der ersten Feria: „Ich bedauere dich, König“, sagt traurig eine Choristin, und bekommt im nächsten Augenblick fast einen Hocker an den Kopf geworfen. Mnouchkines Schauspieler bewegen sich kaum, sie lassen der Tragödie Raum, ihre eigene Bewegung zu entwickeln. Der Verrat des Vaters, das ungläubige Geschehenlassen der Tochter, der Schmerz der Mutter — all das wird weniger gespielt als durch die Farben der Kostüme, einige Gesten und Klänge ausgedrückt.

Mnouchkine hat den Text des Euripides von den Hellenisten Jean und Mayotte Bollack neu übersetzen lassen. In eine sehr nüchterne Gegenwartssprache, ohne Rhythmus und Pathos, die Menelaos und den Seinen sogar den Gebrauch von Wörtern wie „Argument“ und „Funktion“ erlaubt.

Beim Hinausgehen zur Pause muß der Zuschauer einen schmalen Steg überqueren, unter dem — wie bei jenen archäologischen Fundstätten in China — lebensgroße Tonfiguren, Krieger, Frauen und Pferde, in Reih' und Glied aufgestellt sind. Und plötzlich, nach einem Paukencrescendo, scheinen die Krieger zu Leben erwacht zu sein, sie haben Farbe angenommen und marschieren in die Arena, zum zweiten Teil der Tetralogie: Agamemnon. Troja ist gefallen, und Aischylos erzählt die Rache der Klytaimestra an dem zurückgekehrten Tochtermörder Agamemnon. Rot ist jetzt die Farbe des Chores, und die Mutter hat Kleidung und Gesten ihrer Tochter übernommen. Auch die Sprache im „Agamemnon“ ist farbenfreudiger (Übersetzung: Ariane Mnouchkine), nur wirken die Schauspieler genauso ausgelaugt wie einst die Krieger vor Troja: Die Monologe schleppen sich dahin, und selbst die Wiederbegegnung Klytaimestras mit Agamemnon, die Schlüsselszene der Tragödie, bleibt ohne Feuer.

Was dies alles mit der Résistance zu tun hat und wie Ariane es in Zukunft mit Theater und Geschichte zu halten pflegt — darüber nächste Woche ein Gespräch mit der Regisseurin. Alexander Smoltczyk

Les Atrides — Iphigénie à Aulis, Agamemnon. ThéÛtre du Soleil. Jedes Wochenende in der Cartoucherie Vincennes. Reservierungen: 1-43.74.24.08