Ein Jammertal im Ruhestand

■ Jan Lauwers' „Needcompany“ und ein internationales Arbeitstreffen Freier Theater

Wie geht es den Freien Theatergruppen? Sie überleben. Und drohen sich selbst zu überleben. Chronisch finanzielle Engpässe, schlechte oder zu teure Probenmöglichkeiten, mangelndes öffentliches Interesse — so sieht es in Deutschland aus. Nur Kabarett oder Travestie gehen gut. Große Produktionen gibt es unter den „freien“ Deutschen nicht, obwohl sie im Schnitt über mehr Subvention verfügen als ihre weltberühmten Kollegen, etwa Jan Fabre, Jan Lauwers, die Rosas: allesamt international agierende flämische Künstler, die sich von deutschen, französischen oder österreichischen Theatern unterstützen lassen.

Schauen wir uns Jan Lauwers genauer an. Seine Gruppe gastierte soeben im Frankfurter Theater am Turm. Lauwers „Needcompany“ (to need: etwas brauchen) hat nicht nur die Chuzpe, sich von ganzen vier Theatern bezahlen zu lassen, mit einem weiteren Theater eine Koproduktion einzugehen und dazu noch Gelder aus zwei öffentlichen Subventionstöpfen zu schöpfen, die „Needcompany“ spielt auch noch Shakespeares Julius Caesar in nur einer Stunde, in flämischer Sprache ohne Simultandolmetscher.

Das Bühnenbild hat der Bildhauer Jan Lauwers — kein gelernter Theatermann — karg ausgestattet. Zwei gepolsterte Sofas aus dem Wartesaal eines niederländischen Vorortbahnhofs, ein marmorner Fußboden aus seinem Bildhaueratelier, einen CD- Player aus seinem Wohnzimmer. Jedes hiesige „freie“ Theater bringt diese Utensilien kostenlos zusammen.

Aber Jan Lauwers ist nicht deshalb erfolgreich, weil es auch in Frankreich gerade Mode ist, Jan Lauwers' Theater zu lieben. Lauwers ist so erfolgreich, mit Verlaub, weil er Theater als eine Kunst begreift und dies auch über die Rampe bringt. Man starrt auf die unprätentiöse Art, wie zwei Frauen und fünf Männer in knittrigen Anzügen dastehen und als bloße Menschen Shakespeare durchpflügen, die Hände in den Hosentaschen, ihn auf das Allereinfachste reduzieren, so, wie man in der Bildenden Kunst irgendwann einmal ein Bild auch mit sieben Strichen zu einem erstaunlichen Bildeindruck bewegen konnte, statt in der aufgeblasenen Manier großer Meister aus vergangenen Jahrhunderten herumzudilettieren.

Lauwers' Julius Caesar stirbt in den Iden des März und, wie bei Shakespeare, schon im dritten Akt. Nach dreißig Minuten hat man es also soweit hinter sich. Auf dem Marmorboden sind Friedenstauben eingraviert, an der Rückwand hängt eine ebensolche als Spiegel. Blutig wird es nicht. Caesar starrt als alter Mann mit blutleeren Augen ins Parkett, dreht sich um und geht ab. Einstweilen wird der soeben verübte Mord diskutiert, dann gehen Caesars Widersacher drauf — ebenfalls unblutig. Am Mikrofon steht eine Einsagerin, die bislang nur die Aktangaben durchgab, ohne daß Schauspieler auf- oder abtraten. Sie überlebte einen herabstürzenden Scheinwerfer nur deshalb, weil er vorschriftsmäßig angekettet war (ein Theatertrick, wie mir alle versicherten).

Wer zu sterben hat, der steht auf der schwarzen Liste, symbolisiert durch ein Tintenfaß, das eine zweite Dame herbeiträgt und daraus rotes Theaterblut entnimmt, um es sich unter die Nase zu reiben. Das Sterben der Mörder beginnt, in dem Caesar wiederkehrt und Schaukelpferde auf die Bühne stellt. Seine himmlische Armee, getötet durch die Anweisung Shakespeares, versammelt sich auf den Pferdchen. Händels Julius Caesar erklingt von CD, das Licht verlöscht. So einfach ist das.

Wie Kinder unterscheiden sie in Lauwers' Inszenierung nicht gut und böse, die Toten spazieren noch zwischen den Lebenden und albern herum. Caesar läßt Rauch aufsteigen, Portia (die Nasenblutende) läßt Gas aus einer Gasflasche ab. Und dann lächeln alle glücklich gestorben ihrem Publikum zu, winken — es ist unprätentiös. Aber auch alles sehr lieb, irgendwie süße Theaterkinder...

Der Leiter des Brüsseler Kaaitheaters, hier entstand ein Großteil der Produktion, Hugo De Greef, ist alles andere als ein lieber Theatermann. Er hat aus der ökonomischen Not des flämischen Theaters ein Geschäft gemacht und eine Theaterszene gebildet, die binnen weniger Jahre zur bekanntesten Europas zählt. Sein Erfolgsrezept: Nur mit den Theatermachern zu arbeiten, die ihn interessieren und die er in ein Netzwerk zentral integriert. Die Auftritte und Verträge werden ausgehandelt durch dieses Netzwerk, das eigentlich eine Theateragentur mit angegliedertem Theater und Werkstätten ist. Gastspielhäuser zahlen im voraus einen Teil der Poduktionskosten, die als Sicherheit für weitere Subventionsmaßnahmen und zinsgünstige Bankkredite dienen.

Die Agentur, oder wie De Greef es nennt, die Administration, die den in der Tat zeitraubenden Organisationsaufwand immer für mehrere Gruppen übernimmt, erhält für ihre Arbeit eine angemessene Courtage — sie arbeitet als „freier“ Markt und bildet keinen Wasserkopf. Sie übernimmt eine nicht unerhebliche Lobbyfunktion.

Das könnte auch ein Modell für die „freie“ deutsche Theaterszene sein. Denn bei uns jagen Freie Theater mehr den finanziellen Vorbedingungen ihres Theaters hinterher, als es spielen zu können. In Deutschland gibt es zwar Theateragenturen, aber nur für solche Theater, die unkompliziert Erfolg und Geld versprechen: für Kabarettisten und Tourneetheater.

Für Produzenten wurde Freies Theater in Deutschland erst dann ein Fall, wenn es sich in Europa etablieren könnte. Ein ähnliches Phänomen wie in Katalonien: Hier gibt die Kommune erst Geld, wenn europaweite Erfolge nachweisbar sind.

Der Frankfurter Mousonturm, renommierte Spielstätte der „Freien“, lud angesichts dieser Situation europäische Freie Thater ein und wurde augenblicklich zum Ort deutscher Forderungen. Erstens wünschten sich die unbekannten deutschen eine theoretische Theaterdebatte, da sie eine inhaltliche Auseinandersetzung von der Presse nicht bekommen. Zweitens wollen sie sich nicht mehr Freies Theater nennen, da die Mehrheit der „freien“ Gruppen den künstlerischen Ruf des Freien Theaters schädigen. Die ausländischen Gäste dachten nicht im Traum an Theatertheorie, und „freie“ Gruppe nennt sich bei ihnen niemand. Sie machen halt Theater.

Bei den anderen Europäern definiert sich Theater als Kunst, oder es ist keine. Man verhält sich entweder wie in den anderen Künsten auch: so gut und interessant wie möglich zu sein, damit möglichst viele ein Gastspiel dieser Gruppe wünschen. Oder verschwindet ungehört in der Versenkung.

Nur in den Niederlanden ist das noch etwas anders. Hier werden besondere Kategorien aufgestellt, um eine künstlerisch anspruchsvolle Gruppe nicht aus demselben Topf bezahlen zu müssen wie eine Gruppe, die Stadtteiltheater betreibt. So Michiel de Rooij vom Niederländischen Theaterinstitut. Eine wesentliche Erleichterung dort ist, daß nur alle drei Jahre ein Subventionsantrag gestellt werden muß (bei uns jährlich). Denn nach drei Jahren kann sich erst herausstellen, ob eine Gruppe akzeptiert wird oder nicht.

Die Unterscheidung in künstlerisch anspruchsvolle, in städtisch- repräsentative und pädagogisch sinnvolle Gruppen — wie in den Niederlanden — hätte in Deutschland zumindest Sinn für solche Gruppen, die tatsächlich künstlerischen Anspruch anmelden, um nicht am Geldtopf und im Feuilleton konkurrieren zu wollen mit Gruppen, die einen ganz anderen Anspruch haben. Für sie wäre eine Stadtteilförderung sinnvoller, als Terrain, auf dem auch ein verantwortungsvolles Kulturprogramm hergestellt werden könnte.

Aber durch die bloße Unterscheidung zwischen „freiem“ und „städtischem“ Theater, zwischen „Projektförderung“ und „Haushaltstitel“ in der Subventionskasse wird man einer institutionalisierten Theaterkunst kaum gerecht. Denn künstlerisch anspruchsvolles Theater benötigt in etwa Mittel zwischen hunderttausend bis zu zwei Millionen Mark, die durch eine Mischung aus Koproduktionen, zinsgünstigen Krediten und Subvention zusammenkommen, um überhaupt einen professionellen Stand zu erreichen. Summen, die vergleichbare Gruppen in Frankreich aufbringen, um zum Beispiel an die künstlerische Qualität eines Jan Lauwers heranzureichen. Arnd Wesemann