„Wir haben noch eine Chance“

■ Auszüge der Rede Václav Havels, in der er eine Stärkung seines Amtes fordert DOKUMENTATION

Vor dem Bundesparlament forderte der Präsident der CSFR am Montag ein Verfassungsgericht, die Möglichkeit von Volksreferenden und mehr eigene Machtbefugnisse.

Ich bin zu der Ansicht gekommen, daß nicht allein unsere junge Demokratie, sondern die Existenz unseres Staates selbst in Gefahr ist. Unsere Unabhängigkeit und unsere Freiheit erleben ihre bisher schwerste Prüfung. Unser Staat ist heute nicht — wie so oft in unserer Geschichte — von außen bedroht, sondern von innen: Wir bedrohen ihn selbst durch unsere niedrige politische Kultur, durch unser fehlendes demokratisches Bewußtsein, durch mangelndes Verständnis füreinander. Auf das Rednerpult dieses Parlaments führt mich heute die Sorge um die Zukunft unseres Landes und die Verantwortung, die ich durch meinen Eid als Präsident übernommen habe. Sie alle wissen, worüber ich spreche. Sie stehen vor der Aufgabe, ein Verfassungsgesetz zu behandeln, das die Kompetenzen unserer beiden Republiken und der Föderation festschreibt [...]. Das Problem liegt darin, daß einige slowakische Politiker, vor allem der Vorsitzende der slowakischen Regierung selbst, folgendes deutlich zum Ausdruck gebracht haben: Im Falle, daß Sie dieses Gesetz nicht in der vom slowakischen Landtag beschlossenen Form annehmen, droht die Gefahr, daß dieser erklärt, daß seine Gesetze denen der Bundesversammlung übergeordnet sind. (...)

Was bedeutet es, wenn der eine oder der andere Landtag eine solche Überordnung seiner Gesetze verkündet?

Vor allem wäre es ein klarer Verfassungsbruch. Das dünne Eis unserer heutigen Konstitution würde zerbrechen, wir befänden uns in einem völlig rechtsfreien Raum. Sie als höchstes und legitimes Organ unserer Föderation und ich als ihr gewählter Präsident, die Föderalregierung, die Ihr Vertrauen erhalten hat, wir alle müßten den Standpunkt eines weiteren legitimen Organs einer der Republiken für verfassungswidrig erklären. Gleichzeitig würden jedoch nicht nur unsere Rechtsbefugnisse, sondern auch die Existenz unserer Funktion grundsätzlich angezweifelt. Diese Konfrontation bedeutet den faktischen Zerfall der heutigen rechtsstaatlichen Ordnung unserer Republiken und wäre mit allen seinen Folgen der Beginn des Auseinanderbrechens der Tschechoslowakei als Staat.

Was würde dieser Zerfall unseren Bürgern bringen?

1. Die Existenz unseres Staates als Subjekt des internationalen Rechts würde beendet. Seine internationale Anerkennung und dadurch auch die Unverletzbarkeit seiner Grenzen würde aufgehoben. Ebenso Hunderte von internationalen Verträgen, die uns mit dem Rest der Welt verbinden. Entstehen würde die ungeheuer komplizierte Frage der Rechtsnachfolge. Welche Hoffnung auf ein Fortbestehen hätten jedoch zwei völlig neue, im System der internationalen Verträge nicht verankerte, ökonomisch zerfallende Staatsgebilde in einer Region, die mit großen Schwierigkeiten eine neue Stabilität sucht? All dies in einer Situation, in der aus dem Osten eine Emigration von Hundertausenden droht. Ich denke, diese Hoffnung wäre sehr gering.

2. Wir wären der erste europäische Staat, der in der Nachkriegszeit zerfällt, beziehungsweise verschwindet. Wenn wir unsere geographische Lage betrachten, würde so der Aufbau einer europäischen Friedensordnung ernsthaft bedroht. Ganz bestimmt würde dadurch der europäische Integrationsprozeß behindert. Beendet würden die verschiedenen Abrüstungsverhandlungen, das Interesse des Westens an den Ländern in Mittel- und Osteuropa ginge verloren. Wir wären keine vertrauenswürdigen,sondern unberechenbare und gefährliche Partner.

3. Im Hinblick auf die Unvermeidbarkeit ökonomischer Reformen und die Notwendigkeit ausländischer finanzieller Unterstützung würde der Verfassungsbruch eine tiefe ökonomische und soziale Krise bewirken, vielleicht führt er auch direkt zum wirtschaflichen Kollaps. Dies wäre nicht nur das Ende der Hoffnung auf einen ökonomisch prosperierenden Staat, sondern mit größter Wahrscheinlichkeit auch das Ende der Demokratie sowohl in der tschechischen als auch in der slowakischen Republik (...)

Ich wage zu sagen, daß uns nicht nur die zukünftigen Generationen, sondern auch die weltweite Öffentlichkeit für verrückt erklären würde.

Vor einem Jahr haben wir gegen die totalitäre Führung den Geist der Gewaltlosigkeit, der Toleranz, des Verständnisses gestellt. Wir waren bereit, für die gemeinsame Sache Opfer zu bringen. Wir haben uns zu den Idealen der Freiheit, der Demokratie, der staatlichen Unabhängigkeit bekannt, wir wurden von der Idee der Menschen- und Bürgerrechte geleitet. Einer meiner slowakischen Freunde schrieb das Lied „Wir versprachen uns Liebe“, und wir haben es alle gesungen. Gemeinsam wollten wir alles Unrecht, das in der Vergangenheit beide Republiken erleiden mußten, beheben, gemeinsam wollten wir — Tschechen, Slowaken, Ungarn, Ruthenen, Polen, Roma, Deutsche und die Angehörigen aller weiteren Nationalitäten — einen tatsächlich humanen Staat, eine wirkliche und lebensfähige Föderation errichten. Der Zustand unserer Republik, wie er sich heute am 10. Dezember 1990, dem internationalen Tag der Menschrechte, darstellt, spiegelt nicht gerade viele dieser Ideale des letzten Jahres wider. Daher appelliere ich heute an alle Mitbürger. Wir müssen alles versuchen, die drohende Verfassungskrise abzuwenden. Ich appelliere an sie auch deshalb, weil alle mir zugänglichen Informationen zeigen, daß die überwiegende Mehrheit der Bürger einen gemeinsamen Saat will. [...] Noch haben wir eine Chance. Nutzen wir sie.

Für die Lösung der Krise schlage ich folgendes vor:

1. Die Einrichtung eines Verfassungsgerichtes...

2. Die verfassungsrechtliche Möglichkeit eines Referendums, mit dem im Falle unlösbarer Konflikte die Meinung der Bevölkerung festgestellt werden kann. Diese Meinung sollte die höchste entscheidende und für alle bindende Autorität darstellen. Wir haben für die Lösung der Verfassungskrise bisher keine Möglichkeiten. Man kann sagen, wir haben leere Hände. Der Beschluß eines Gesetzes, das den Einsatz der Armee zum Schutz der Verfassung erlaubt, erscheint uns allen sicher kein geeignetes Mittel. Die vorgelegten Gesetzesentwürfe stellen daher nicht nur einen Weg dar, wie man verfassungskonform unsere Krise lösen kann, sondern dienen auch dazu, durch die direkte Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungen die demokratischen Rechte der Bevölkerung zu vergrößern.

Zugleich habe ich jedoch das intensive Gefühl, daß für die allernächste Zeit auch diese Möglichkeiten nicht ausreichen könnten. Ich glaube fest daran, daß Sie mich im letzen Jahr als einen Menschen kennengelernt haben, dem es nicht um persönliche Macht geht. Lange Zeit war ich der Meinung, daß die Kompetenzen des Präsidenten in der zukünftigen Verfassung begrenzt werden sollten. Die Ereignisse der letzten Wochen haben mich jedoch davon überzeugt, daß eine Erweiterung meiner Rechte in genau bestimmten Fällen notwendig ist. Ich denke, daß weder Sie noch ich geahnt haben, in welch komplizierte und paradoxe Situationen uns unsere Funktionen bringen können.

Übersetzung: Sabine Herre