Es ist Zeit, daß sich die Wissenschaft auf die Seite der Opfer stellt

■ Die unverantwortliche Politik der notorischen Verharmloser in Moskau hatte maßgeblichen Anteil am schweren Schicksal der Bevölkerung von Tschernobyl

Die Geschichte der Atomenergienutzung ist eine ununterbrochene Kette von Verschleierungen, Verharmlosungen und Betrug von seiten der Mächtigen, der eigentlich Verantwortlichen. Nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki verhängte die Regierung der USA eine Informationssperre; nichts sollte über die Folgen der Explosionen bekannt werden. Von Präsident Eisenhower stammt der Satz: „Laßt die Bevölkerung im Unklaren!“

Obwohl einzelne Wissenschaftler immer wieder versucht haben, sich gegen diese Art von Informationspolitik zu wehren, obwohl sich Bürgerbewegungen formiert haben und weltweit zu respektierten Diskussionspartnern geworden sind, finden wir in der Diskussion um Tschernobyl erneut genau die gleichen Muster vor: Der sowjetische Gesundheitsminister Tschasow, der als Mitglied der IPPNW, der internationalen Institution „Ärzte gegen den Atomkrieg“, große Verdienste im Kampf gegen Atomwaffen erworben hat, sagte 1988, am zweiten Jahrestag der Katastrophe, man habe nun die Gewißheit, daß niemand in der Bevölkerung durch das Atomkraftwerk Gesundheitsschäden davongetragen habe. Je höher man in der Hierarchie der sowjetischen Behörden steigt, um so weniger erfährt man über die Auswirkungen des GAUs von Tschernobyl. Erst vier Jahre danach durchbricht die unübersehbare Realität die Mauern des Schweigens — zunächst aber nur in den direkt betroffenen Republiken — nicht in Moskau. Die Opfer beginnen zu reden und zu demonstrieren, es gibt erste Daten. Wissenschaftler, Ärzte und Politiker stehen auf und bemühen sich um die Wahrheit, rufen nach Hilfe. Die Informationen sind unvollständig, die Quellen sind oft diskret zu behandeln; nur in seltenen Fällen weiß man, wie die Daten zustandekamen. Es ist sehr schwierig, herauszufinden, wer übertreibt und wer bagatellisiert.

Folgen viel verheerender als bisher angenommen

Die Lebensbedingungen verschlechtern sich insgesamt und wirken ebenso wie die Strahlenbelastung auf die Gesundheit der Bevölkerung ein. Auftretende Krankheiten werden aufmerksamer als zuvor registriert. Aber viele Ärzte verlassen die belasteten Gebiete. Es scheint aussichtslos, ein unvoreingenommenes Bild der Situation zu bekommen.

Weitgehende Sicherheit herrscht heute jedoch in folgenden Punkten:

1. Die Folgen der Katastrophe sind viel verheerender, als die „Experten“ je angenommen hatten. Das gilt für die ökonomischen, die sozialen wie auch für die medizinischen Auswirkungen.

2. Es gibt eine Vielzahl von „normalen“ Erkrankungen, die jetzt öfter auftreten, schwerer verlaufen, länger dauern und auf die Medikamente schlechter ansprechen, als vor 1986: Angina, Erkrankungen der oberen Atemwege, Gastritis, Augen- und Nierenerkrankungen. Eine allgemeine Schwächung der Abwehrkräfte gegenüber Infektionen aller Art kann auf dem Weg Strontium-90/ Knochen/ blutbildendes Knochenmark oder auf dem Weg Jod-131/ Schilddrüse/ indirekte Belastung der Thymusdrüse hervorgerufen werden.

3. Die Anzahl der Kinder mit Anämie (Blutarmut) stieg nach 1986 steil an. Mangelanämien werden vermutlich durch die schlechtere Ernährung nach dem Reaktorunfall verursacht.

4. Besonders für Kinder gab es sehr hohe Belastungen der Schilddrüse durch Jod-131. Heute läßt sich eine deutliche Zunahme von verschiedenen Schilddrüsenerkrankungen und ihren Auswirkungen feststellen.

5. Angeborene Mißbildungen sind in den belasteten Gebieten höher als im belorussischen Durchschnitt. Im Gebiet von Gomel stieg die Anzahl von Entwicklungsstörungen bei Embryonen von 5,4 pro 1.000 im Jahr 1985 auf 9,2 im Jahre 1989.

6. Nach ersten Untersuchungen von Professor Kondraschenko aus Minsk weisen mehr als 90 Prozent der Einwohner in den belasteten Gebieten neuropsychische Störungen auf. Bei Kindern aus der Zone sind organische Veränderungen des Zentralnervensystems dreimal häufiger gefunden worden als bei Kindern aus unbelasteten Gebieten.

7. Akute Leukämie und andere bösartige Bluterkrankungen stiegen im Gebiet um Minsk pro Jahr von durchschnittlich 3 pro 100.000 Kinder von 1980 bis 1985 auf 9,3 bereits in den ersten neun Monaten des Jahres 1989. 25 neuerkrankte Kinder gab es 1986 auf der Station der Hämatologischen Klinik von Doktor Olga Aleinikowa, in den ersten zehn Monaten des Jahres 1990 waren es schon 58. Gerade bei Leukämie ist nicht anzunehmen, daß vor 1986 viele Fälle nur nicht registriert worden sind. Frau Aleinikowa bestätigte ausdrücklich die von ihr insbesondere für das Minsker Gebiet angegebenen Daten. Mit einer weiteren Erhöhung der Leukämiefälle ist zu rechnen; Leukämieerkrankungen stellen „nur“ die Vorboten einer vielfach höheren Anzahl von Krebserkrankungen in den nächsten Jahrzehnten dar.

Der Wille zur Wahrheit ist nicht vorhanden

Natürlich hat jeder Wissenschaftler Recht, wenn er behauptet, daß man den Kausalzusammenhang zwischen Strahlenbelastung und Krebs im konkreten Fall nicht signifikant nachweisen kann. Das liegt unter anderem daran, daß Krebs durch viele andere Faktoren hervorgerufen werden kann, daß es nur äußerst grobe Schätzungen der individuellen Strahlenbelastung gibt. Ebenfalls richtig ist, daß die Datenbasis problematisch ist. Um so bedauerlicher ist, daß diese tatsächlich vorhandenen methodischen Schwierigkeiten immer wieder in falsch verstandener Wissenschaftlichkeit zu der Aussage benutzt werden, eine sichere Zunahme bestimmter Erkrankungen nach Tschernobyl sei nicht nachweisbar. Ein durch Tschernobyl verringerter oder unveränderter Krankenstand ist nämlich aus den gleichen Gründen ebensoschwer nachweisbar.

Es war die unverantwortliche Politik der Verharmloser, die maßgeblichen Anteil daran hatte, daß die Bevölkerung völlig ungeschützt von der Wolke getroffen wurde. Diese Leute müßten ihre Schuld an dem Leid vieler Menschen eingestehen, sobald sie beginnen wollten, die Wahrheit zu sagen. Dieser Wille ist aber nicht erkennbar. Wir haben aus der Geschichte der Atomenergie gelernt, skeptisch zu sein, skeptisch gerade gegenüber den eigentlich zuständigen Experten. Es ist an der Zeit, daß sich Ärzte und Wissenschaftler im Zweifelsfalle auf die Seite der Opfer stellen. Sebastian Pflugbeil