Das unbestechliche Auge

Gespräch mit Alan J. Pakula über seinen Film„Aus Mangel an Beweisen“  ■ Von Lars-Olav Beier und Gerhard Midding

taz: Was schätzten Sie an der Romanvorlage?

Alan J. Pakula: Scott Turow besitzt ein Talent, das sehr selten geworden ist und in unserer Zeit des Minimalismus leider nur noch wenig respektiert wird: Er kann brillant Plots konstruieren. Turow hat in seinem Buch eine wahre Achterbahn von einem Plot geschaffen. Ständig wird der Leser überrascht: innerhalb der Kapitel ist die Spannung unerträglich, an den Kapitelenden treiben Cliffhanger zum Weiterlesen an. „Was passiert als nächstes? Immer wieder: Was passiert als nächstes?“ Dieser unnachgiebige Drive zwingt den Leser fast dazu, das Buch in einem Zug durchzulesen.

Dies war für mich eine große Herausforderung. Wir mußten den Film ja für zwei Arten von Zuschauern drehen: für die, die wissen, wer der Mörder ist, weil sie den Roman gelesen haben, und die, die es nicht wissen. Die Zuschauer der ersten Gruppe würden genau darauf achten, ob es für den Verdacht, daß Rusty Sabich (Harrison Ford) der Mörder ist, wirklich ausreichend Indizien gibt, oder ob es nur ein fauler Trick von unserer Seite ist. Ein Zuschauer, der einen Film zum zweiten Mal sieht und dabei entdeckt, wie er beim ersten Sehen von den Filmemachern zum Narren gehalten wurde, fühlt sich betrogen. Man muß einen Plot so konstruieren, daß das Publikum beim zweiten Kinobesuch Vergnügen daran hat, zu entdecken, welche Hinweise ihm beim ersten entgangen sind.

Dann hat Sie vor allem die Konstruktion der Geschichte gereizt?

Nicht allein die Konstruktion. Scott Turow erzählt diese schillernde Geschichte völlig unspektakulär, ganz nüchtern. Den bizarren Mord, die Obsessionen des Mannes beschreibt er mit der kühlen Przäzision eines guten Rechtsanwalts. Die Geschichte wird aus der Ich-Perspektive erzählt: Die Hauptfigur Rusty Sabich blickt aus der zeitlosen Distanz auf diese Ereignisse zurück und geht dabei schonungslos mit seinem eigenen Verhalten ins Gericht. Er ist sich selbst fremd geworden und sieht nun einen Mann, der sich selbst beinahe zerstört hätte.

Haben Sie mit Turow Kontakt aufgenommen?

Ja. Ich hatte noch mehr Achtung vor ihm, nachdem mir erzählt worden war, daß er den ersten Entwurf des Buches während der täglichen Bahnfahrten zwischen seiner Arbeitsstätte und seinem Haus in den suburbs von Chicago geschrieben hatte. Wenn ich dagegen sehe, daß diese Hin- und Rückfahrten in meinem Leben mehr oder weniger ungenutzte Zeit sind, komme ich mir richtig faul vor!

Wie sind Sie vorgegangen, um für Turows literarischen Stil ein filmisches Äquivalent zu schaffen?

Ich mußte natürlich meine eigenen kinematographischen Werkzeuge benutzen. Ich hatte keinen Ich- Erzähler zur Verfügung, nicht das Medium der Sprache, um diese Welt zu schaffen. Ich stellte mir eine sehr bewegungslose Kamera vor, einen sehr kühlen, kontrollierten, strengen Stil, im Kontrast zu der Gewalt und Leidenschaft vor der Kamera. Die Kamera sollte ein distanzierter Beobachter sein, der über das unbestechliche Auge des Juristen verfügt und den Blick keine Sekunde lang abwendet. Wenn Rusty und Carolyn Polhelmus (Greta Scacchi) im Büro miteinander schlafen, ist die Kamera ein leidenschaftsloser Voyeur, der unablässig, aber ungerührt zuschaut.

Es ist aber von zentraler Bedeutung, daß es nie die Kamera ist, die das Geschehen dramatisiert. Deswegen darf es keine einzige überflüssige Fahrt geben, keinen einzigen unnötigen Schwenk; der Zuschauer muß der Kamera vertrauen können, daß sie allein der Wahrheitsfindung verpflichtet ist.

Wie haben Sie bei den Vorbereitungen für den Film recherchiert?

Ich habe sehr viel Zeit im Büro des Staatsanwalts in Detroit verbracht. Ich konnte an Konferenzen teilnehmen, auf denen entschieden wurde, welcher Fall vor Gericht geht und welcher nicht. Ich konnte Zeugenbefragungen beiwohnen oder Vorstellungsgesprächen von Anwälten. Recherchen sind überaus wichtig. Die Wirklichkeit gibt einem Ideen, die man sich nie und nimmer ausdenken könnte. Wir haben uns z.B. zahllose Gerichtsgebäude im Mittelwesten der USA angesehen. Der Gerichtssaal, der im Film zu sehen ist, wurde einem Gericht in Cleveland, Ohio nachempfunden. Sogar das Wappen, das hinter dem Richter (Paul Winfried) zu sehen ist, ist eine exakte Kopie.

Haben Sie später in diesem Gerichtssaal gedreht?

Nein, weil bestimmte Kamerastandpunkte nicht möglich gewesen wären, haben wir ihn in größeren Proportionen nachbauen lassen. Aber die Änderungen waren nur geringfügig, die Ähnlichkeit beträgt circa 80 Prozent. In All the Presidents Men habe ich Gebäude als Symbole der Macht eingesetzt. Hier repräsentieren sie Ideale. Ich habe bei der Suche nach Drehorten viele moderne Gerichte gesehen, aber ich wollte letztlich ein Gebäude, das das alte, klassische, ruhmreiche Ideal von Gerechtigkeit darstellt: die Würde dieses Saales gegenüber den schäbigen Tricks, den Winkelzügen, die diese Würde fortwährend verhöhnen; die Reinheit des Ideals im Kontrast zur schmutzigen Wirklichkeit.

Als wir uns in Newark ein Büro der Anklagevertretung anschauten — in der Abteilung für Jugendkriminalität —, stellen wir fest, daß die einzelnen Schreibtische, die Arbeitsplätze, nicht einmal durch Glasscheiben voneinander abgetrennt waren. Jeder hört mit, was die anderen besprechen, und jeder weiß, daß die anderen hören, was er gerade bespricht. Dieses Büro repräsentierte genau das antiquierte System, das völlig unzureichend ausgestattet ist, um den modernen Anforderungen standhalten zu können.

Haben Sie ähnliche Anstrengungen unternommen, um das Privatleben der Anwälte kennenzulernen?

Ich habe mir viele Häuser von Anwälten im Mittelwesten angeschaut. Ich habe Fotos anfertigen lassen. Als ich in Detroit recherchierte, wurde ich oft eingeladen, durfte in alle Räume und sogar in die Schränke gucken. Die Ehefrauen waren begeistert! Der Zuschauer sollte das Gefühl haben: Das ist eine durchschnittliche amerikanische Familie!

Aus Mangel an Beweisen behandelt ja den Gegensatz zwischen Beruf und Privatleben.

Der Film erzählt von einem Mann, der auf seinen Beruf, den er aus tiefster Überzeugung ausübt, sehr stolz ist. Deswegen spricht er auch zu Beginn den Off-Text, während die Zuschauer den leeren Gerichtssaal sehen: Dies ist eine Institution, von der seiner Auffassung nach die gesamte Zivilisation abhängt. Aus der Art, wie er darüber spricht, wird sofort klar, daß dies ein Mann mit Idealen ist, nicht jemand, der bloß herumvögelt. Wir lassen die Liebesszene zwischen ihm und Carolyn hauptsächlich deswegen im Büro stattfinden, weil dies für ihn fast der Entweihung einer geheiligten Stätte gleichkommt. Dies macht natürlich auch die Erregung aus, eine sehr düstere Erregung.

Wie haben sich denn die Schauspieler auf den Film vorbereitet?

Ich habe dafür gesorgt, daß die Schauspieler so viel Zeit wie möglich mit ihren realen Vorbildern verbrachten. Raul Julia wurde von Michael Kennedy instruiert, der ein sehr guter und berühmter Rechtsanwalt in den Staaten ist. Er vertritt Elvira Trump in ihrem Scheidungsprozeß. Als ich ihn eines Tages in seinem Büro aufsuchte, war sie zufällig auch anwesend. „Ich wußte gar nicht, daß du auch Scheidungsfälle übernimmst!“ rutschte es mir raus. „Das ist erst mein zweiter. Der erste war meine eigene Scheidung“, erwiderte er zum Entsetzen von Elvira Trump. Aber er ist ohne Frage ein großartiger Anwalt, der seinem Beruf mit großer Leidenschaft nachgeht. Er gab Raul ein ganzes Memorandum, wie er einen Fall aufbaut, mit welchen Tricks er arbeitet, wie er vor Gericht auftreten muß, um auf die Jury Eindruck zu machen. Raul lernte Michaels gesamte „Philosophie“ kennen.

Paul Winfried bereitete sich mit einem schwarzen Richter in Detroit auf seine Rolle vor. Der erlaubte ihm sogar, neben den Prozessen neben ihm auf der Bank zu sitzen. Alle Schauspieler sollten sich vor Gericht wie zu Hause fühlen. William N. Fordes, ein Anwalt ans New York, war während der gesamten Drehzeit dabei und konnte jederzeit um Rat gefragt werden. Wenn irgendein Detail nicht stimmte, erhob er sofort Einspruch. Diese außerordentlich bizarre Geschichte, die Turow geschaffen hatte, voll theatralischer, fast grand-guignol-hafter Momente, mußte fest in der Wirklichkeit verankert sein. Es sollte keine freischwebende film-noir-Phantasie sein.

Harrison Ford, der Hauptdarsteller, verkörpert Rechtschaffenheit. Der Film verlangt ja vom Zuschauer, zusammen mit Harrison Ford diese Geschichte zu durchleiden und sich gleichzeitig die Frage zu stellen, ob er der Mörder ist: Dieser Mann hat eine Frau, ein Kind, ein nettes kleines Haus; er geht zur Arbeit, bezahlt seine Steuern. Ein völlig normaler Mensch: wie einer meiner Freunde, wie der Mann, mit dem ich verheiratet bin, wie ich selbst. Hat er eines der schlimmsten vorstellbaren Verbrechen begangen?

Im Gegensatz zu den meisten Stars wirkt Harrison nicht bigger than life, sondern wie ein Durchschnittsmensch. Harrison ist ein sehr aufrichtiger Schauspieler, der all das durchlebt, was auch seine Figur durchleben muß. Gleichzeitig ist er auch ein sehr guter Erzähler, ein hervorragenderadvocatus diaboli, weil er selbst ein sehr rationaler und gewissenhafter Mensch ist. Er hat genau den präzisen Verstand, den ein guter Jurist braucht. Und dieser sehr aufrichtige, verantwortungsbewußte Mann begeht einen schweren Treuebruch, aber er ist kein Mann mit zahllosen Affären, kein womanizer.

Wir waren auch alle überrascht, wie populär der von Winfried gespiele Richter Judge Larren Little in den Staaten wurde. Schon in den ersten Previews erwies er sich als eine Art Volksheld. Als die Zuschauer erfuhren, daß der Richter in einen Bestechungsskandal verwickelt war, ging ein Raunen durch den Saal, aber am Ende mochten sie ihn immer noch sehr gern. Es ist sehr leicht, die Zuschauer dazu zu bringen, eine Figur zu hassen. Aber ich will, daß sie am Ende sagen: „Ich verabscheue, was dieser Mensch getan hat. Aber ich verabscheue nicht den Menschen.“

Es war sehr interessant, mitzuverfolgen, wie hartnäckig Greta Scacchi an ihrem amerikanischen Akzent gearbeitet hat, um diese Rolle überzeugend spielen zu können. Ich sagte eines Tages zu ihr: „Wenn das Publikum das Gefühl hat, nicht genau zu wissen, wo diese Frau herstammt, ist das gar nicht so schlecht. Denn wir haben es mit einer Frau zu tun, die sich gewissermaßen selbst geschaffen hat. Sie hat womöglich noch nie mit jemandem über ihre Kindheit gesprochen. Ich stelle mir vor, daß sie aus einer sehr armen Familie stammt, als Kind vielleicht sogar von ihrem Vater oder ihren Brüdern mißbraucht wurde. Jetzt tut sie alles, um selbst Erfolg zu haben und Macht zu bekommen. In einer von Männern beherrschten Gesellschaft will sie sich um jeden Preis durchsetzen.

Viele Zuschauer halten Carolyn Polhelmus für ein Luder. Ich habe diese Frau immer verteidigt. Gut: Herzlich ist sie nicht. Ja, natürlich hat sie Ambitionen. Aber werden Männer wegen ihrer Ambitionen verurteilt? Carolyn ist männlich, sie will nach oben kommen. Auch Männer können sehr rücksichtlos sein, wenn sie nach oben wollen. Nur benutzen sie dazu nicht ihre sexuelle Attraktivität. Zum einen haben sie es meist nicht nötig, zum zweiten ergibt sich ja nur selten eine Gelegenheit, weil in den entscheidenden Positionen ja wiederum Männer sitzen. Es gibt weltweit mehr Frauen als Männer, und dennoch werden sie behandelt wie eine verschwindende Minderheit. Und sie werden von Menschen unterdrückt, die ihnen physisch weit überlegen sind. Also setzen die Frauen die Mittel ein, die ihnen zur Verfügung stehen, z.B. ihre sexuelle Attraktivität. Ich finde es bedauerlich, wenn Sex einer anderen Sache als dem eigenen Vergnügen dient, aber ich finde es keineswegs monströs.

Können Sie sich vorstellen, selbst Anwalt zu sein?

Er macht eine lange Pause. Ja, ich könnte mir vorstellen, Anwalt zu sein. Nicht einer, der die Interessen irgendeiner Firma vertreten muß. Ich hätte gerne das Privileg, mich nicht für eine Seite entscheiden zu müssen.