Der Westen, so wie er ist

■ Alain de Benoist über die Doppelzüngigkeit des Westens in der Golfkrise DEBATTE

Wie auch immer die Golfkrise ausgehen wird, es lassen sich bereits zwei Lehren aus ihr ziehen. Die erste: Das westliche Gewissen gesteht Saddam Hussein ohne weiteres das Recht zu, seine Nachbarn zu überfallen — wenn der Nachbar Iran heißt. Tatsächlich brach der Irak im September 1980 einen Krieg vom Zaun, der eine Million Opfer fordern sollte, gegen ein Land, das ja wohl eine andere historische Legitimität besitzt als Kuwait, dieses Kunstprodukt der britischen Kolonialverwaltung. Damals haben die Westmächte Saddam Hussein nicht verurteilt. Stattdessen war es unsere Anliegen, ihn zu ermuntern und zu bewaffnen. Die zweite Lehre: Verletzungen des „Völkerrechts“ werden offenbar nur dann wirklich geahndet, wenn sie die heiligen Ölstätten betreffen. Diese zwei Tatsachen reichen aus, um die Doppelzüngigkeit des Westens zu beweisen. Dieses Wort drängt sich wirklich auf. Während der amerikanischen Sezessionskriege sagte man: „Sie reden von der Bibel, sie meinen die Baumwolle“. Heute reden sie von der internationalen Moral, wenn sie die Zivilbevölkerung Panamas massakrieren oder die „boys“ in der Wüste stationieren. Sie reden von „Werten“, aber sie handeln nur nach ihrem Eigeninteresse: der Panamakanal, das Öl.

Restlose Abdankung des kritischen Geistes

In Frankreich organisiert eine Batterie von Fernsehmoderatoren in bester orwellscher Tradition eine tägliche „Viertelstunde Haß“ gegen den Vampir von Bagdad, wohl um zu beweisen, daß Aufrufe zum Heiligen Krieg nicht allein dem Islam zustehen. Halbwilde erteilen Unzivilisierten das Wort, während die Mehrheit der Politiker sich brav anpaßt und die Zeitungen alle dasselbe sagen. Es drängt sich die Schlußfolgerung auf, daß kein totalitäres Regime jemals einen solchen Konsens genossen hat, wie ihn die Konditionierung durch die Medien erzeugt.

Der Hintergrund, auf dem sich all dies abspielt, ist der einer restlosen Abdankung des kritischen Geistes, des Fehlens jeglicher Analyse, der vereinfachenden Parolen und der manipulierten Bilder. Dieselben feinsinnigen Beobachter, die subtile Unterscheidungen zwischen der Besetzung Kuwaits und Libanons treffen — ganz abgesehen von der britischen Besetzung Nordirlands, Gibraltars oder der Malwinen — behaupten kühl, Saddam Hussein sei Hitler und Nebukadnezar in einem, wenn nicht sogar der letzte der Amalekiten. (Zu beachten ist, daß man niemals Stalin erwähnt — zweifellos weil dieser ja lediglich ein Dutzend europäische Länder in seine Gewalt brachte.)

Niemand stellt die Frage, warum Frankreich in dieser Angelegenheit seinen eigenen Interessen so offensichtlich zuwiderhandelt. Niemand stellt die Frage, was die meisten Geiseln vor den jetzigen Ereignissen eigentlich in Irak machten. Niemand wundert sich, daß diejenigen, die die irakische Militärmacht jetzt am eifrigsten verurteilen, sie selbst geschaffen haben. Als wir Saddam Hussein Waffen verkauften, dachten wir denn, daß er sich bloß eine Sammlung zulegt?

Dies hindert die Kollaborateure der amerikanischen Ordnung natürlich nicht daran, ihren Feinden das Etikett „München“ zu verpassen. Der Begriff hat einen praktischen Nutzen, aber keine Bedeutung. „Münchner“ ist, wer vor einem deklarierten Feind von vornherein kapituliert, oder wer sich seiner Verantwortung gegenüber einer Entwicklung in seiner Einflußsphäre oder geopolitischen Zone entzieht, aber nicht derjenige, der sich weigert, sich selbst ein unilaterales Recht zur Einmischung in die Angelegenheiten der Welt zu erteilen.

Anti-Imperialisten konvertieren

Es ist schon ein wundersamer Anblick, wie die alten Feinde des Imperialismus zu begeisterten Unterstützern der USA konvertieren, wie die Dritte-Welt-Enttäuschten die von ihnen verratenen Ideale verhöhnen und sich zur Verteidigung einer Stadt mit dem doch sehr arabischen Namen „Kuwait City“ rüsten, wie die vom Maoismus zum Dienstwagen aufgestiegenen Ex-Linken oberlehrerhaft die Notwendigkeit des den Ölmilliardären dienlichen bürgerlichen Krieges erklären, wie die Multikultur- Verteidiger den Verweigerern des westlichen tribalistischen Dschungels die Logik absprechen, wie die Intellektuellen jegliche kritische Position zugunsten der herrschenden Ideologie aufgeben, wie die „moralischen Autoritäten“ den Petromonarchien zu Hilfe eilen: Rühr meinen Emir nicht an!

Ich habe nicht die geringste Sympathie für Saddam Hussein oder das irakische Baath-Regime. Mit Schrecken erinnere ich mich an die abscheuliche Art, wie das Regime im August und September 1988 die kurdische Bevölkerung vergaste. Wahr ist, daß dieses Ereignis keine internationale Mobilisierung hervorrief. Von Wall Street aus gesehen wiegt der kurdische Märtyrer genausowenig, wie das Blut der palästinensischen Kinder auf Schamirs Gewissen lastet oder der Tod von Bobby Sands auf dem Gewissen Thatchers. Klar: Die Kurden haben kein Öl.

Und es geht auch nicht darum, dem Irak eine Unterstützung zu gewähren, die ihm mehrere arabische Staaten als allererste verweigern. Es geht um eine politische Regelung des Konflikts durch die betroffenen Länder der Region und um die Ablehnung dessen, daß die amerikanische Macht nach eigenem Gutdünken in der ganzen Welt interveniert und Europa zwingt, sich anzupassen. Es geht auch darum zu wissen, ob die UNO zur Aufrechterhaltung kolonialer Grenzziehungen da ist. Und darum, ob es nicht besser wäre, anstatt einer Homogenisierung des Planeten durch eine neue amerikazentrierte Weltordnung auf die Geburt eines „Pluriversums“ großer selbstbezogener Weltregionen und freier Völker, die nach ihrer eigenen Vorstellung von ihrer Zukunft über sich selbst bestimmen, hinzuarbeiten. Wer die Erde als eine einzige politische Einheit betrachtet, verneint das Wesen der Politik — Politik impliziert Pluralität — und kehrt zum Zustand des Dauerkrieges zurück.

Nachdem sie bereits die Schwarzen zur Sklaverei erniedriegten, an den Indianern Völkermord verübten, die Japaner mit Atombomben und die Vietnamesen mit Napalm überzogen, war es natürlich logisch, daß sich die USA auch eines Tages um die Araber kümmern würden. George Bush, der Mann ohne Eigenschaften, der zum größten Unterstützer Gorbatschows geworden ist, mußte ebenfalls ein „Reich des Bösen“ finden, um auf Weltebene die Schutzerpressung fortzusetzen, auf die sich schon lange die Außenpolitik seines Landes reduziert.

Der Westen, diese verblühte Hure, die nur dem Geld nachläuft und seit Jahrhunderten nicht davon lassen kann, anderen Völkern ihre Identität zu nehmen, hat sehr wohl verstanden, daß die Wiederkehr der arabisch-islamischen Identität heute die größte Bedrohung für seine monopolistische Hegemonie darstellt. Daher macht der Westen alles, um sie zugrunde zu richten und sie zu dämonisieren, und beweist damit wieder einmal seine Unfähigkeit, mit anderen eine Beziehung einzugehen, die nicht auf der Konvertierungsebene abläuft. Denn die „Selbstverständlichkeit“ der Menschenrechte heute beruht auf derselben Selbstgerechtigkeit, die nacheinander die Herrschaft über die „Eingeborenen“ im Namen des „wahren Glaubens“, im Namen der „Überlegenheit der weißen Rasse“, des „Fortschritts“ und der „Entwicklung“ zuließ. Jedesmal ging es um die Legitimierung eines Einmischungsrechts in die Angelegenheiten anderer mittels einer herrschenden Ideologie. Und die angewandte Methode ist immer die gleiche: Der westliche Ethnozentrismus präsentiert seinen Partikularismus als die Stimme des Universellen und schlußfolgert, er dürfe sein Modell anderen aufzwingen. Bislang hat die Methode gut funktioniert, und der Kolonialismus kleidet sich immer wieder neu. Aber die Geschichte, welche man vor einigen Monaten noch beerdigte, kehrt schon wieder zurück. Der Westen wird alle Kriege gewinnen, außer dem letzten. Und wenn es eines Tages einen Dritten Weltkrieg geben muß, werden ihn die USA und der europäische Kontinent gegeneinander austragen. Alain de Benoist.

Der französische Schriftsteller gehört zur „Neuen Rechten“, die gleichzeitig mit den „Neuen Philosophen“ (Glucksmann, Levy u.a.), die aus der Neuen Linken kamen, Ende der 70er Jahre die abrechnende Auseinandersetzung mit dem Marxismus führte. Aus Le Monde, 6.12.1990. Übersetzung: Dominic Johnson