DERKINO-TIP  ■  CHANSONS DER LIEBE

Die Kunst zu leben bedeutet auch, Kurven zu nehmen. Der Mann, der das sagt, weiß wovon er spricht. Er ist ein Regisseur der perfiden Sorte, seine Zuhörerin eine kleine verschüchterte Frau mit großen fragenden Augen, in denen sich Angst mit Hilflosigkeit und Tragik mit unstillbarer Sehnsucht nach Geborgenheit vermischen. Ein Spiegel der Seele, tränenblind gehört er der Piaf. Die Szene spielt im ersten Film der Frau, die schon zu Lebzeiten zur Legende wurde und deren Lieder einem heute noch immer das Wasser in die Augen treiben können.

Jean Cocteau, der am gleichen Tag starb, als Edith Piaf begraben wurde, schrieb einmal über sie: »Wenn die Piaf singt, hat man das Gefühl, sie risse sich ihre Seele aus dem Leib«.

Der 1946 entstandene Film von Marcel Blistene macht die kraftvolle Emotionalität, mit der die zarte, zerbrechlich wirkende Frau mit der großen Stimme ihren Lebensschmerz heraussang, mehr als deutlich.

Erzählt wird die Geschichte des Stummfilmstars Stella, die nach dem Beginn der Tonfilmära nicht nur überleben, sondern sich weiterhin in ihrem Ruhme sonnen will. Sie »borgt« sich die Stimme ihres ansonsten ziemlich farblosen Hausmädchens Madeleine alias Edith Piaf. Und rettet somit ihre Karriere. Der Schwindel fliegt auf, die Diva nimmt sich das Leben. Nun will Madeleine selbst ihr Glück versuchen, doch Ränke und Intriegen, unglückliche Liebe, die eigene Mutlosigkeit und fehlende Zuversicht werden zu Fallstricken. Auf der Bühne der Musichall versagt ihr die goldene Stimme, als ihr die tote Stella wie ein Menetekel erscheint. Am Ende kehrt Madeleine gebrochen dahin zurück, woher sie einst kam: in die Anonymität der dunklen Gassen von Paris.

Die simple Handlung des Filmes ist eindeutig. Doch der Spatz von Paris verleiht diesem Schwarz-Weiß-Streifen einen Glanz, der 44 Jahre später noch zum Zuschauer herüberstrahlt und ihn verzaubert. Ihre Stimme ist mehr als bloßer Gesang, es ist der Ausdruck eines Schmerzes, der von Selbstmitleid und dem Wissen um die Dinge des Lebens genährt wird, und von der Erkenntnis, daß die Gier nach Leben oft zerstörerisch ist.

Wenn die Piaf singt, dann liegen Schatten auf ihrem Gesicht, dann schwingt Tritesse in jedem ihrer schicksalhaften Chansons mit, aber wenn die Piaf lacht, dann ist es das Lachen eines unschuldigen Kindes.

An ihrer Seite agiert der damals noch unbekannter Yves Montand. Etwas schlacksig und mit linkischen Gesten spielt er den Automechaniker Pierre, der trotz vielerlei Unbilden und Abwehrversuchen Madeleines immer wieder zu ihr zurückkehrt. Denn für ihn ist sie gebliben, was sie auch im wirklichen Leben verkörperte: eine fragile Rose, die in der Dunkelheit emporwuchs und im Sonnenaufgang vollauf erblüte.

Der Film läuft im Notausgang und in der Filmbühne am Steinplatz.

Boris Erdtmann