„Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“

Alfred Andersch, deutscher Schriftsteller. Zu Stephan Reinhardts Biographie  ■ Von Günther Grosser

Die späte Geschichte zuerst: Am 3.Januar 1976 erschien in der 'Frankfurter Rundschau‘ ein Gedicht mit dem Titel artikel 3 (3), ein 143-Zeiler, der mit der lyrischen Aufbereitung des titelgebenden Paragraphen aus dem bundesrepublikanischen Grundgesetz anfing, den zweiten Abschnitt provozierend mit den Zeilen „ein volk von/ ex-nazis“ anschloß, um dann, nach einem durchaus praktikablen Vorschlag zur Desavouierung eines modernen deutschen „folterers“, an einige damals wie heute populäre Persönlichkeiten folgende merkwürdige Frage zu stellen: „warum legen/ der scheel/ der schmidt/ der willybrandt/ der genscher/ der maihofer/ nicht den judenstern an/ wenn sie/ beim frühstück lesen/ daß man schon wieder/ eine lehrerin/ gefoltert hat“. Eine Antwort konnte wer wollte aus den verbleibenden Zeilen herauslesen. „das neue kz/ ist schon errichtet“, hieß es da an exponierter Stelle, und auch der Schluß war deutlich genug: „ein geruch breitet sich aus/ der geruch einer maschine/ die gas erzeugt“.

Alfred Andersch, deutscher Schriftsteller. Zu Stephan Reinhardts Biographie

Von Günther Grosser

Die späte Geschichte zuerst: Am 3.Januar 1976 erschien in der 'Frankfurter Rundschau‘ ein Gedicht mit dem Titel artikel 3 (3), ein 143-Zeiler, der mit der lyrischen Aufbereitung des titelgebenden Paragraphen aus dem bundesrepublikanischen Grundgesetz anfing, den zweiten Abschnitt provozierend mit den Zeilen „ein volk von/ ex-nazis“ anschloß, um dann, nach einem durchaus praktikablen Vorschlag zur Desavouierung eines modernen deutschen „folterers“, an einige damals wie heute populäre Persönlichkeiten folgende merkwürdige Frage zu stellen: „warum legen/ der scheel/ der schmidt/ der willybrandt/ der genscher/ der maihofer/ nicht den judenstern an/ wenn sie/ beim frühstück lesen/ daß man schon wieder/ eine lehrerin/ gefoltert hat“. Eine Antwort konnte wer wollte aus den verbleibenden Zeilen herauslesen. „das neue kz/ ist schon errichtet“, hieß es da an exponierter Stelle, und auch der Schluß war deutlich genug: „ein geruch breitet sich aus/ der geruch einer maschine/ die gas erzeugt“.

Es ging natürlich um den Radikalenerlaß, um Berufsverbote und Gesinnungsschnüffelei, und die Provokation war eine gewollte, spielte sich jedoch auf den Feuilletonseiten ab, in der Kultur also, wo der jeweilige politische Gegner ja durchaus Zugeständnisse zu machen bereit war und ist, gibt uns die Kunst doch „die Chance, den Fortschritt experimentell in Frage zu stellen, ohne dafür hohe gesellschaftiche Kosten entrichten zu müssen“, wie es einer, der's wissen muß, Edzard Reuter nämlich, ein Jahrzehnt später formuliert hat. So hätte die lyrische Provokation also zur Kenntnis genommen und für übertrieben gehalten werden können, wie so vieles aus der linken Ecke damals. Allerdings stammte das Gedicht weder von Peter Paul Zahl noch von Thorwald Proll oder Erich Fried, sondern von einem, „der sich während der Studentenunruhen eher zurückgehalten hatte“, wie die 'Zeit‘ im kurz darauf losgebrochenen Kulturkampf schrieb. Der zurückhaltende Provokant hieß Alfred Andersch, und die Affäre um sein Gedichtartikel 3 (3) — mit Sendeverbot in Jürgen Lodemanns Literaturmagazin im SWF-TV plus wütenden Attacken und Invektiven durch Freund und Feind — dauerte Monate, wurde ein paar Jahre danach im Alfred Andersch Lesebuch dokumentiert und ist jetzt noch einmal nachzulesen in der gerade erschienenen voluminösen Andersch-Biographie von Stephan Reinhardt.

Die ältere Geschichte danach: Alfred Andersch, 19, wohnhaft Neustätter Straße 6 in München-Neuhausen, wurde am 10.3.1933 als Mitglied des kommunistischen Jugendverbandes verhaftet, in das Polizeigefängnis Ettstraße verbracht und am 22.März ins Konzentrationslager Dachau eingeliefert. Tatsächlich war er einer der ersten Häftlinge im allerersten nazistischen KZ. Etwa vier Wochen lang mußte der „Organisationsleiter des Kommunistischen Jugendverbandes Südbayern“ exerzieren, schuften und nochmals exerzieren, dann schaffte es die Mutter mit Hilfe eines Freundes bei der NSDAP, ihren Alfred wieder loszueisen.

Beide Geschichten, die vom Verfolgten und die andere vom Provokateur, laufen in der Person des Schriftstellers Alfred Andersch zusammen, eines deutschen Schriftstellers, der zwischen 1948 und 1980 vier Romane, an die fünzig Erzählungen und Hörspiele, einen autobiographischen Bericht und zig Essays veröffentlicht hat, die alle um dasselbe Thema kreisen: Deutsche, warum lernt ihr nichts aus eurer Vergangenheit?

Fast ausnahmslos beschäftigte sich Andersch in seinen Texten mit der enttäuschenden Maßgabe, eine rasende Blutorgie mit angesehen zu haben, bloß um anschließend Bücher über diesen Tatbestand an ein Volk zu liefern, das ganz offensichtlich damit beschäftigt war, beispiellose Verdrängungsarbeit zu leisten und Leute wie ihn dabei als krankhafte, eklige Nestbeschmutzer ansah. „Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“ fragte er noch im Januar 1980, als er an Vater eines Mörders, einer Erzählung über den Vater Heinrich Himmlers, arbeitete (zu einer Zeit also, als die allermeisten Schriftsteller längst mit wenig mehr als ihrer eigenen Befindlichkeit beschäftigt waren.)

Der Abstand zwischen den deutschen Intellektuellen der fünfziger und sechziger Jahre und Otto Volkswagen war so groß, daß ersteren regelmäßig die Kinnlade herunterfiel, wenn die gewählten Vertreter des letzteren ihre restaurativen Maßnahmen eine nach der anderen durchsetzten. Andersch und Gleichgesinnte rackerten in Zeitschriften, Funkhäusern und Diskussionsrunden am Mahnmal, während die Teilnehmer der Blutorgie wieder in Stellung rückten, dieses Mal in Nadelstreifen, umgeben von Aktenordnern mit dem Aufdruck Demokratie. Und Skeptiker, der er war, entwarf Andersch mit anhaltender Regelmäßigkeit literarische Fluchten.

Seine erste Fluchtgeschichte, eine Erzählung mit dem Titel Flucht nach Etrurien, erschien 1950 in Fortsetzungen in der 'Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘, die zweite 1952 als Buch — von Fischer ud Rowohlt abgelehnt — bei Eugen Kogons Frankfurter Verlagsanstalt. Sie trug den Titel Die Kirschen der Freiheit und war nichts weniger als die Autobiographie des jungen Alfred Andersch inklusive eines minutiösen Berichts seiner Desertion von der Wehrmacht in Italien 1944, alles eingetaucht in die existentialistischen Deckfarben der Zeit. Es erschienen 77 Rezensionen des Buches. In den folgenden vier Jahren wurden jedoch lediglich 2.460 Exemplare der Kirschen verkauft. Nur ausdauernden Radiohörern konnte es passieren, bei übereifriger Sendersuche doch wieder auf Andersch zu stoßen. Nachdem er im Anschluß an die Kriegsgefangenschaft (in den USA) bei Erich Kästner in der Münchner 'Neuen Zeitung‘ das journalistische und als Herausgeber der literarischen Zeitschrift 'Der Ruf‘ das publizistische Handwerk gelernt hatte, begann er 1948 bei 'Radio Frankfurt‘ seine jahrzehntelange Karriere als Rundfunkredakteur und Radiomacher, lieferte dabei mit anhaltender Regelmäßigkeit brillante Radioprogramme — die auch heute noch ab und an in den entsprechenden Kulturprogrammen wiederholt werden — und protegierte nebenher Freunde und Bekannte aus der Gruppe 47 (der er ja von Anfang an angehörte) wie Hans Magnus Enzensberger, Helmut Heissenbüttel und Arno Schmidt, indem er ihnen Jobs oder Sendezeit beim Rundfunk verschaffte.

Was seine Arbeit als Schriftsteller angeht, so gilt Andersch auch heute noch als „Moderner“, eine Kategorisierung, die jedoch wohl etwas mit dem Zug der Zeit, wenn nicht gar bloß mit Umschlagbildern seiner Bücher zu tun hat, als mit seinen Texten. Er selber hat sich zwar immer wieder auf diesen Begriff eingelassen, ohne sich dabei jedoch allzuweit von realistischen Konzepten zu entfernen. „Der Versuch, neue Formen zu finden..., schafft für jede Epoche ein verändertes Klima. Dieses veränderte Klima... ist aber das, was wir als ,Moderne‘ bezeichnen. Das Moderne im Künstler ist im Grunde nichts weiter als ein Gefühl für Klimaveränderungen“, schrieb er 1952. Viel allgemeiner geht's nimmer, und bei diesem Räsonnement sollte es im wesentlichen bleiben. Drei Jahre später konzedierte er in seinem großen Essay Die Blindheit des Kunstwerks modernen Formexperimenten zwar kritische Funktion („Die Abstraktion ist die instinktive oder bewußte Reaktion der Kunst auf die Entartung der Idee zur Ideologie“), pochte aber gleichzeitig auf den Primat des Inhaltlichen („Idee, Handlung, Zustand, Stimmung“) gegenüber „der Blindheit der reinen, sich selbst genügenden Form“ und befand sich damit durchaus „in Einklang mit der Ästhetik Hans Wener Richters, Heinrich Bölls und der Mehrheit der Autoren der ,Gruppe 47‘.“ (Reinhardt)

Allerdings experimentierte Andersch seit den Kirschen und seiner Begegnung mit Arno Schmidt — durchaus mit Techniken perspektivischen Erzählens, Rasterverfahren, Montagen und Collagen, am weitesten getrieben in seinen Radioarbeiten oder in späteren Erzählungen wie Noch schöner Wohnen undMein Verschwinden in Providence (1971). Kulminationspunkt all dieser Annäherungen an moderne literarische Positionen wurde sein Roman Winterspelt (1974), die Geschichte einer undeutschen Handlung. Ein Major der Wehrmacht plant kurz vor Kriegsende die kollektive Desertion seines gesamten Bataillons zu den Amerikanern.

Andersch war nicht nur ein unbequemer Intellektueller, er war ein unbequemer Mitmensch. Obwohl Stephan Reinhardt zu diesem Punkt ab und an eine schmerzhafte und aufs höflichste abgeschwächte Einlassung wagt („Neid konnte er immer verwinden, noch ihn jederzeit mit Humor entschärfen“), hält er sich dabei doch eher bedeckt und schreibt das eine oder andere lieber in die Anmerkungen. Kritik an seiner Arbeit konnte Andersch zum Beispiel partout nicht ertragen. Hans Werner Richter attestierte ihm Jähzorn und erzählte, wie ausgerechnet Andersch bei einer Tagung der Gruppe 47 jene Geste einführte, bei der das Publikum — die Kollegen also — durch den berüchtigten Cäsarendaumen (abwärts) dem Vorlesenden zu erkenen gab, daß man den Text für Mist hielt. Daß Andersch schamlos ehrgeizig war, hat immer wieder zu süffisanten Kommentaren von verschiedenen Seiten geführt, den Wenigsten dürfte allerdings bekannt gewesen sein, daß er dabei sogar soweit ging, sich selber einen lobenden Klappentext zu schreiben und dem Verlag für den Erzählband Geister und Leute (1958) vorzuschlagen, eine Eloge, die mit dem Satz „Die deutsche Literatur besitzt in Alfred Andersch eines ihrer gesündesten und selbständigsten Talente“ endete (man fragt sich natürlich, wer die kranken Talente waren. Günter Grass vielleicht, den er noch 20 Jahre später als seinen „Intimfeind“ bezeichnete?). Wolfgang Hildesheimer bezeichnete ihn in einem Brief an den Biographen als den „humorloseste(n) Mensch(en), der mir jemals begegnet ist“.

Arno Schmidt über seinen langjährigen Briefpartner AA: „Einmal hasDe Besuch gekriegt n Kollege mit seiner Frau... Den Mann habt Ihr übrigens bestimmt auch in der Schule erwähnt: kein Genius, abern leidlich=ordentlicher LiteraturWerker. Er lobte mich zu einer Zeit, da Lob mir noch förderlich war. (:?) — Ochnein als Mensch iss er mir etwas zu „weltoffen“; so — „gepflegte Ungepflegtheit“, weißt Du; also einer, der im Grunde seines Herzens zu den Smoking-Kulturen tendiert:...“ (In Zettels Traum)

Alle diese Geschichten, und Dutzende mehr, breitet Stephan Reinhardt in seiner Biographie aufs Ausführlichste vor uns aus. Es empfielt sich, sein Buch wie einen Steinbruch zu handhaben, in dem sich einige interessante Adern weiterverfolgen lassen, ohne daß man gleich das ganze Gelände durch das Sieb rüttelt, denn da fallen einem dann doch vor lauter „Mutter in Schliersee“, „wieder in Berzona“ und „Besuch bei Michael und Daphne“ die Augen zu („Ein Ausflug mit Salami und Brot im Rucksack führte die vierköpfige Familie Anfang Januar nach Süden in die Albaner Berge“).

Materialfülle wird man sowas wohl nennen, Detailgenauigkeit und Fleißarbeit, wobei dann aber doch einige Fragen offenbleiben, Fehler und Übertreibungen auffallen. Da tritt zum Beispiel der junge Alfred 1929 der freien Gewerkschaftsjugend im „Zentralverband der Angestellten“ bei, bloß um eine halbe Seite später „wegen linker Opposition“ wieder ausgeschlossen zu werden. Was war er denn nun für ein Radikalinski, der 15jährige, daß ihn die Gewerkschaft nicht mehr haben wollte? Heißt Georg Glaser nun Georges Glaser oder George Glaser? Auch wenn Andersch ab und zu eine Partie Schach spielte oder sich an ein Flüßchen setzte, muß man ihn doch nicht schnurstracks zum „leidenschaftlichen“ Schachspieler und Angler machen.

Nicht daß weniger mehr gewesen wäre, aber das Wissen darüber, daß Andersch am Soundsovielten jenes Monats 19...zig ein Leberwurstbrot zu sich nahm, wird die Germanistik nicht gerade übermäßig voranbringen. Und Reinhardts Vorhaben, Anderschs Leben zwischen Konzentrationslager, Mauerbau, APO und Atomstaat, seinen „Beitrag zur kulturellen Umerziehung der Deutschen“ nachzuzeichnen, tun die vielen Wurstbrote geradezu Abbruch.

Stephan Reinhardt: Alfred Andersch · Eine Biographie, Diogenes, gebunden, 768 Seiten, 69 DM