Tabula rasa à la SPD

■ Brigitte Seebacher-Brandt macht in der 'FAZ‘ reinen Tisch mit den 68ern REPLIK

Ein merkwürdiges Gerücht kehrt hartnäckig immer wieder. Verloren im Nebel einer heillosen Verwirrung, erschöpft von fruchtlosem Bemühen soll die Linke seit gestern oder vorgestern zu bestehen aufgehört haben. Und jene, die diese Gerüchte verbreiten, fügen hinzu, daß die Begriffe ,links‘ und ,rechts‘ nun jedes Sinnes entbehren.“ Was Manès Sperber, der vorgestern 85 Jahre alt geworden wäre, im Jahre 1952 als eine Unternehmung voreiliger Totengräber beschrieb, wiederholte dieser Tage Brigitte Seebacher-Brandt, Ehefrau des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers, in einem Leitartikel im Feuilleton der 'FAZ‘. Diesmal ist nicht von „der Linken“ die Rede, sondern von „den Achtundsechzigern“. Weil sie im Angesicht der deutschen Einheit versagt hätten, werde nun „ihr Erbe nicht weitergetragen“: „Es ist versunken und der Blick frei — auf jene Generation, die 1989 und 1990 geprägt worden ist.“

Diese Tabula-rasa-Mentalität einer offenbar zur rechten Zeit geborenen Mittvierzigerin mag vielen als die Apotheose jener „Hexenjagd“ gegen die linke Intelligenz erscheinen, die Walter Jens, Günter Grass, Christa Wolf und andere in einigen kritischen Essays von 'FAZ‘, 'Spiegel‘ und taz zu erkennen glaubten.

Nichts falscher als das. In den inkriminierten Artikeln — von Frank Schirrmacher über Ulrich Greiner und Arno Widmann bis zu Hellmuth Karasek und Hans Magnus Enzensberger — wurden Fragen an „die Linke“ aufgeworfen, die diese sich selbst nicht in gebotenem Ausmaß und angemessener Härte stellte, nachdem die letzten Hinterhöfe und Projektionsflächen sozialistischer Utopien buchstäblich abgeräumt waren. Da die — unabgeschlossene — Debatte querfeldein geführt werden muß und unterschiedliche Wunden hinterläßt (oder offenbart), ist sie für viele unangenehm und schmerzhaft. Frau Seebacher-Brandt aber hat weder wirkliche Fragen noch Schmerzen im Angesicht ihrer historischen Gewißheiten. Sie ist schlicht fasziniert von dem „Vorgang“, daß die „Achtundsechziger“, die sich bislang „an der Spitze des Zuges wähnten“, nun, da dieser „plötzlich in die entgegengesetzte Richtung fährt, abgehängt“ worden seien.

Doch der feuilletonistische Triumph über ihre Altersgenossen Cohn-Bendit, Fischer, Thomas Schmid und alle, deren Generation jetzt „abgewählt“ worden sein soll, verrät selber nur eine militaristische — Manès Sperber hätte gesagt: „polizistische“ — Geschichtsauffassung. Das Ganze kehrt, der Zug marschiert, und die Geschichte hält den Atem an.

In einer an Hegel im Readers-Digest-Format erinnernden idealistischen Logik erscheint das fortschreitende Ganze als das einzig Wahre, welches von den „Achtundsechzigern“ zwanzig Jahre lang mit „antiautoritärem und sonstigem Hokuspokus“, durch „intellektuell erfaßte Zweistaatlichkeit und das emotional erfahrene Wohlleben“ verdunkelt worden ist. Erst jetzt hat sie die Geschichte „überlistet — und abgewählt“. Der böse Fluch ist von dem nun endlich geeinten Land genommen, und einzig offen bleibt die Frage, warum sich das deutsche Volk ein zweites Mal in diesem Jahrhundert so hat knechten lassen von einer verblendeten Minderheit.

Es ist das Elend aller Eiferer, daß sie die Geschichte ins Feld führen, um sie vor der Wirklichkeit zu schützen. Falsche Abstraktionen, Halbwahrheiten und hermetische Pseudointerpretationen sind das Resultat; recht zu behalten, nicht, etwas wissen zu wollen, ist das Ziel. Tatsächliche Veränderungen und Widersprüche gelten nichts.

So überläßt sich Frau Seebacher- Brandt ihren Rachegefühlen gegenüber der politischen „Elite“ ihrer Generation, ohne wahrzunehmen, wie sehr die Fischer, Vollmer, Schily, Schoppe, Fücks, wie sehr Barbara Köster, Peter Schneider, Matthias Beltz, Ulrich Preuß, Cora Stephan, Sebastian Cobler und viele andere „Achtundsechziger“ dafür gesorgt haben, daß nach der Vereinigung das „Modell Deutschland“ einen weitaus weniger drohenden Klang hat als es vor 15 oder 20 Jahren der Fall gewesen wäre. Der Ruf „Nie wieder Deutschland!“, den die linksgrünen Sektierer um Jutta Ditfurth ausbrachten, war ja gerade der dümmste Teil des linken Selbstverständnisses und der Selbstblockade. Dieses potentiell faschistische Deutschland, dem sie mit Brechts „Anachronistischem Zug“ die letzte Ehre erwiesen, hat sich durch all die — inzwischen tatsächlich Geschichte gewordenen — Proteste, Kämpfe und Bewegungen hindurch in Richtung auf eine leidlich demokratische und offene Republik verändert. Deren Geschichte allerdings wird durch kein noch so „historisches“ Datum abgeschlossen — weder war 1945 die „Stunde Null“, noch 1968 der Rubikon oder 1989 das Ereignis, das alle vorherigen in der Versenkung verschwinden läßt.

Brigitte Seebacher-Brandts Versuch, Geschichte auf einen imaginären Fluchtpunkt — hier: die Einheit — zu fixieren, fällt nicht nur weit etwa hinter die Überlegungen des gewiß nicht „68“-freundlichen Niklas Luhmann zurück, sondern ist im Wortsinne reaktionär. In ihrem ungebremsten Drang, „die Achtundsechziger“ als Generation samt ihres „Erbes“ von der geschichtlichen Bühne zu fegen, ist der Blick fest auf die Vergangenheit gerichtet. Daß „Antifaschismus und Marxismus“ das Weltbild von Fischer, Cohn- Bendit et al. bestimmten, ist, soweit man dies als Umschreibung einer revolutionären Gesinnung gelten lassen will, an die 15 Jahre her. Bemerkenswert die komplette Unterschlagung der anarchistischen und libertären Elemente jener „Achtundsechziger“, denen Herbert Marcuse die „Einheit von Klassenkampf und Libertinage“ gepredigt haben soll. Am Ende aber, so Seebacher-Brandt, blieb nur die „zur Schau getragene Lust am guten Leben“, die in „Selbstsucht“, schließlich in einer „Überheblichkeit“ kulminierte, welche der historische „Augenblick, der zur Epoche wurde“, nun gerecht bestraft hat.

An dieser Stelle wird klar: Gemeint sind nicht die „Achtundsechziger und ihre Nachfahren“, die von Beginn an mit der ungarischen, polnischen und tschechoslowakischen Opposition sympathisierten, Solidarność und Charta 77 unterstützten, mit Vaclav Havel, Jiri Dienstbier, Adam Michnik, Jacek Kuron, György Dalos und György Konrad, den „Achtundsechzigern“ Osteuropas, Kontakt hielten und im 'Pflasterstrand‘ und der taz sich offen mit der demokratischen Opposition in der DDR verbündeten. Gemeint sind Oskar Lafontaine samt seinem Vier- Sterne-Koch, der Tennisspieler Gerhard Schröder, der fröhliche Glatzkopf Momper und all die anderen Enkel des SPD-Ehrenvorsitzenden, dessen notorisch asketisches Leben offenbar nicht so recht abgefärbt hat.

Doch hier lauert eine weitere Irritation: Waren es nicht Helmut Schmidt und Egon Bahr, Erhard Eppler, Günter Gaus und Klaus Bölling, die die Ost-Dissidenten als Störenfriede der sozialdemokratischen Entspannungspolitik betrachteten, denen die „intellektuell erfaßte Zweistaatlichkeit“ als Grundlage europäischer Friedenssicherung galt, die gegen jede autonome Friedensbewegung zu verteidigen war? Hat nicht die SPD-Nomenklatura lange Jahre auf äußerste Distanz zur polnischen Solidarność geachtet und die neu gegründete DDR-SPD erst in dem Augenblick offiziell anerkannt, als „die Geschichte“ bereits entschieden, die SED faktisch entmachtet war?

Die Wiederbelebung des Mythos von „der Geschichte“, die versinkt oder aufersteht, triumphiert oder niederschmettert, gehört zum konservativen Kern jedes Erlöserglaubens, der „reinen Tisch“ macht mit all jenen Verstrickungen und Irrtümern des Lebens und das Gute über das Böse schlußendlich siegen läßt. Daher ist es kein Wunder, daß die gesellschaftliche Entwicklung in der (alten) Bundesrepublik in ihrer ganzen Komplexität auf eine historische Tatsache eingedampft wird: „Das Land ist wieder eines“, schreibt Frau Seebacher-Brandt trotzig ins große Buch der Geschichte und hat damit ihren Beitrag zur Remystifizierung der Gesellschaft geleistet. Die Einundneunziger, die Achtundsechziger, Achtundsiebiger oder Neunundachziger sollten sich an das Wort von Sperber erinnern: „Man mag bezweifeln, ob sich die Linke ohne eschatologische Hoffnung halten kann, doch steht fest, daß sie nicht weiterleben wird, ohne gegen jede Mystifizierung zu kämpfen, die sie auf ihrem Wege antrifft. Deshalb ist der Kampf der Linken für Freiheit immer von der Suche nach Wahrheit begleitet.“ Reinhard Mohr