Die grüne Mappe

■ Baku, Bremen: Johann Heeren (79) hat sein Leben in eine Dokumentation verwandelt

hierhin bitte

das Paßfoto von

dem alten Herrn

mit Brille

Einmal hat uns ein kleiner, alter Mann eine grüne Mappe gebracht. So fangen sonst Geschichten an. In der Mappe war aber von einer anderen das Ende: in Klarsichthüllen, wie alles Wesentliche, Kopien von Fotos, maschinenbeschriebene Blätter. Die abschließenden Lebenserinnerungen des Johann Heeren von den Wallster Langen Äckern in 280 Geschichten.

1) Geburt mit Hindernissen...Meterhoch lag 1911 der Schnee im ostfriesischen Walle nahe Aurich, fast zu spät kam die Hebamme. 1a) Die Nuckelflasche. Mit 4 Jahren lief ich noch immer mit der Nuckelflasche. So auch einmal hinter dem Hause am Weg. Vorbei kam der Bauer Oldewurtel..., der Spötter, und Johann zerschmiß weinend die Flasche und rührte keine Nuckelflasche wieder an. Ein Kürzestschreiber. Folgt Lehrzeit in Utwehrdum und Pewsum, Wanderschaft. Dann Hoteldiener und Busfahrer auf der Linie Aurich (Schweinemarkt)- Neermoor-Leer, somit weithin gefragter Spezialist für Ferkelpreise, einmal den Bus in den Graben gefahren. Dann Rüstungsarbeiter in Bremen.

Und einmal hat es den Johann Heeren, wider Willen, in die Weltgeschichte verschlagen: als Wehrmachtsfunker im Kuban- Brückenkopf. Folgten sechs Jahre sowjetische Kriegsgefangenschaft im kaukasischen Baku. Vierzig Jahre später ist er als Tourist nach Baku zurückgekehrt. Das war 1986. Von beiden Ostfahrten sind Geschichten übriggeblieben. Die grüne Mappe ist voll davon. Wir haben Johann Heeren eingeladen.

Er hat noch zwei Mappen mitgebracht. Eine mit Tickets, Hotelrechnungen, Reisefotos. Johann Heeren vor dem Winterpalais, in einer Karawanserei. „Hier, das bin ich auf der Grusinischen Heerstraße, warten Sie, 2300 Meter hoch.“ Und erzählt vom Kaukasus, wo die Kirchen keine Bänke haben, von den 2750 Fontänen Jerewans und von der Eremitage, deren Schätze zu betrachten „ein Leben nicht ausreichen würde, pro Stück eine Minute gerechnet“. Er hat runde Augen und ein liebstes Wort: „interessant“.

Eine zweite dicke Mappe zeigt er mir, darin sind, sagt er, „politi

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das Foto

von dem

alten Bus

Johann Heerens Bus im GrabenFoto: privat

sche Gedächtnisstützen“. Zeitungsausschnitte über Jahrzehnte, mit vielen roten Strichen. Herr Heeren hat gelesen und unterstrichen und alles gesammelt, selbst Kleinanzeigen, „alles interessant, schaun Sie mal hier“. Da steht: Deutsche Minne, blond, aus bäuerlicher Sippe, artbewußt, mit starken Hüften, 1,75, möchte einem deutschen Jungmann Frohwalterin seines Stammes sein. „Wissen Sie, die Hitlerzeit, das waren auch solche Kleinigkeiten. Achtet sonst niemand drauf.“

Wie ist er, der Hitlergegner, durch den Faschismus gekommen? In seiner Firma, damals LLoyd-Dynamo in Bremen, hatten sie sowas wie einen kleinen Schwarzhörer-Nachrichtendienst, „wir nannten ihn Bum- Bum-Club, wegen BBC, dem britischen Sender“. Als sich im Krieg die Gruppe in alle Winde verlor, dachten sie sich einen konspirativen Kettenbrief-Ring aus. Einmal fiel ein Brief von Heeren der Gestapo in die Hände; er wurde verhaftet, konnte gerade noch fliehen, dann schnappten ihn die Sowjets.

Es gibt Leute, die wissen genau, was sie erlebt haben. Johann Heeren hat vor zwei Jahren einen Summenstrich gezogen und alles, was drunterstand, aufgeschrieben. Jetzt hat er sein Leben in eine kleine Enzyklopädie verwandelt und kann mit Geschichten antworten. Kaum eine Frage, in der er nicht ein Stichwort entdeckt.

Die meisten Antworten habe ich schon gelesen, in der grünen Mappe.

Der Krieg. Was macht man, wenn das größte Erlebnis ein verhaßtes und scheußliches war, eine Demütigung? Wiederholen, mit anderen, eigenen Mitteln: „Immer wollte ich zurück in den Kaukasus, immer.“ Dann zeigt er mir gleich wieder eine krakelige Liste: „Das sind Namen von Mitgefangenen. Ich sollte die Angehörigen benachrichtigen. Die Liste hab ich in einem hohlen Löffelstiel mit nach Hause geschmuggelt.“ Bei ihm kommt nichts weg. Er ist Spezialist für Botschaften.

Es war vor sechzig Jahren, er schaut mich an und sagt: „am 26. Juli 1932“, da hat er in einer Jugendherberge Leute aus fünf verschiedenen Ländern miteinander plaudern hören, in einer sonderbaren Sprache. „Seitdem bin ich Esparantist!“ Und seitdem wollte er Esparanto, die Hilfssprache, lernen. Bloß, wie es immer ist, nicht wahr, er hat damit warten müssen bis zur Rente, und hat, nach Abendkurs, mit 67 Jahren die Prüfung abgelegt. Kann er noch was? „Pentristo pentras pentristino per pentrilo ol pentracho! Der Maler malt mit dem Pinsel ein Bild von der Malerin. So einfach geht das!“ Immer noch nimmt er an den monatlichen Treffen der 60-köpfigen Bremer Esperanto- Gruppe teil. „Ich weiß nichts“, sagt er, „was weiter über den Dingen steht, als daß, Religion und Nation egal, alle Leute eine Zweitsprache haben.“

Noch einmal reisen? Ja, wär schön. Aber seine Frau hat seit 23 Jahren Krebs. Schreiben? Nein, will er nicht mehr, nicht einmal mehr ins Tagebuch, wie früher immer. „Das lohnt nicht mehr, ist ja jetzt Alltag.“ Manfred Dworschak