Lieber Jodeln als Psychiatrie!

■ Es war einmal ein erstes internationales Irrentreffen in Berlin

Antipsychiatrische Tagungen in Deutschland sind meistens angenehm. Die Verrückten sorgen für Stimmung, linientreues Anstaltspersonal ist kaum anwesend, und man kann sich noch gegenseitig kennenlernen. Das liegt an der überschaubaren Anzahl der aktiven Psychiatriegegner in diesem Land.

Ende Oktober gab es in der Bekenntniskirche (Berlin-Ost) eine Veranstaltung, die diesen gewohnten Rahmen ändern wird. Gastgeber für eine erste Versammlung von internationalen Irrenvereinigungen und antipsychiatrischen Projekten war das neugegründete FAPI (Forum Antipsychiatrischer Initiativen). Es kamen seltsam viele. Anti- Normale und Irre aus Österreich, der Schweiz, Belgien, Deutschland (Ost/West), Dänemark.

Alle mußten erst mal nach unten in den Keller des heiligen Hauses und von dort in einen Altarraum. Es war unklar, was mehr schreckte: der einsatzbereite christliche Opfertisch oder die schnoddrige Begrüßungsrede des Moderators. Gott sei Dank konnte man den Altar ost-üblich in Einzelteile zerlegen und wegtragen. Den Moderator nicht.

Den nächsten Schreck bekamen zur Abwechslung die Veranstalter. Die Scientology Church mit ihrer Menschenrechtskommission für internierte Irre war zugegen. Da freuten sich die Irren und fanden das ganz prima, die Veranstalter aber nicht. Sie distanzierten sich vorsichtshalber gleich von der verdächtigen Gruppe, vergaßen aber, die Gründe zu benennen. Auf Dauer verdächtig blieb nur das überragend elegante Outfit der Truppe und eine stahlharte Zuckerpuppe älteren Semesters, die mit entzückter Stimme lobte und dabei den säuerlichen Gesichtsausdruck streng beibehielt.

Solche Äußerungen durfte man während der Veranstaltungen getrost vergessen. Seit langer Zeit war dies das erste Forum, das die Verrückten nicht als zu verwaltenden Abfall betrachtete, sondern als Bevölkerungsgruppe, die sich vor Übergriffen ihrer psychiatrischen Wohltäter schützen muß. Beispielsweise vor der Behandlung mit Psychopharmaka. Die gesundheitsschädigende Wirkung von Psychopharmaka ist seit langem bekannt. Das hindert die Ärzteschaft kaum daran, sie trickreich oder mit Gewalt an die Kundschaft zu bringen. Peter Lehmann, unfreiwillig zum Selbsttest gezwungen und FAPI-Mitbegründer, ist seinem pharmakologischen Erfahrungswissen auf der Spur geblieben und hat detailliert Wirkungen und Nebenwirkungen untersucht. Sein Nachforschungsergebnis: »Psychopharmaka zerstören Körper und Psyche. Außerdem machen sie abhängig.« Es gibt selten Verrückte, die sich nicht gegen die Medikamente wehren, ohne Aussicht auf Erfolg. Das Ablehnen von Medikamenten gilt als Zeichen von Krankheit. Ihre Einnahme wird streng kontrolliert und mit Gewalt durchgesetzt. Darum hat die Irrenoffensive (Berliner Verrücktenvereinigung) zusammen mit einem Rechtsanwalt das Testament für das Leben vor dem Tod ausgetüftelt. Darin soll stehen, wie man im Falle der Einweisung in eine psychiatrische Anstalt behandelt werden will. Ohne Elektroschocks, ohne Psychopharmaka, ohne Insulinschocker, ohne Gewaltanwendung usw. Man setzt dieses psychiatrische Testament bei »klarem Verstand« in Gegenwart des Rechtsbeistandes auf und hofft darauf, daß das Anstaltspersonal den Testamentshinweis samt Rechtsanwaltsnummer berücksichtigt. Bisher gibt es kein Recht, das den Irren trotz zwangsweiser Einweisung in die Anstalt einen Einfluß auf ihre Behandlung zuspricht. Das psychiatrische Testament ist der Versuch, eine Rechtssituation von unten zu schaffen, die die Psychiatrien und die Rechtsprechung auf Dauer nicht ignorieren können. Vorausgesetzt, es gibt genügend Einsichtige, die dieses Testament aufsetzen und Psychiatrie und Richter davon wissen lassen. Die FAPI hofft auf prominente Vorreiter. Die sind, wie Ellis Huber und Trude Unruh in der Schlußveranstaltung signalisierten, noch nicht bereit, sich mit einer eventuellen Einweisung gedanklich-praktisch auseinanderzusetzen. Das sollten sie aber, denn: »So was kann jedem passieren.«

Mit Psychopharmaka beschäftigt sich auch die Heilpraktikerin Anna Ochsenknecht. Sie entzieht seit fünf Jahren sedierte Frauen mit Naturheilmitteln, die sie ausführlich dem heftig mitschreibendem Auditorium vorstellte. Das geht »langsam, sehr langsam und über Jahre. Danach ist man erst mal hypersensibel. Dann geht es erst richtig los. Man muß herausfinden, was einen in die Psychiatrie gebracht hat.« Unweigerlich folgt die Frage: »Wie denn?« Das Thema Psychotherapie wurde gestreift und liegengelassen. Auch die »aktive Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe« als Vorschlag haben die sonst sprechfreudigen Zuhörer ignoriert. Marc Rufer (Schweizer Arzt und Psychotherapeut) fand den Zugang. »Die Schwierigkeiten«, sagt er, »sieht man schon vorher. Notfälle (ein gängiges Argument für die Notwendigkeit von Psychiatrien G.S.) sind Fallen. Sie kommen nicht aus heiterem Himmel, entstehen in Monaten und Jahren und sind vorhersehbar. Mit Gewalt einzugreifen, schafft lebenslange Probleme.« Statt mit Diagnose und psychiatrischer Behandlung das Vertrauen in sich und andere zu zerstören, schlägt er ein Netz von Leuten vor, die nicht richtig aufgeregt sind und sich nicht provozieren lassen. »Man kann da sein, man kann warten, man kann bereit sein, wenn das Vertrauen da ist, daß nicht eingewiesen wird, von allen Seiten. Dann kann auf die eigentlichen Probleme eingegangen werden. Man muß die Probleme rauskriegen, die Probleme sind nicht unbekannt. Das sind Fragen, die wir alle kennen.«

Während sich die Tagungsmänner in separaten Räumen mit der Frage ärgerten, ob man separate Männergruppen brauche, ärgerten sich die separaten Frauen über eine Nachwuchswissenschaftlerin, die ihr Material (Frauen in Selbsthilfefirmen) nicht genügend durchdacht hatte. Die Spinnerinnen vom Frauenzentrum Wien besänftigten die weiblichen Gemüter. Sie konnten den Beginn ihrer Rede nicht finden und mußten so lange lachen, bis die Sätze wieder parat standen. Die Spinnerinnen sind ein Netz von normalen und verrückten Frauen. Über die Freundschaften untereinander haben sich kleine Gruppen entwickelt, die sich gegenseitig beistehen. »Wir haben uns gefragt, was das Allerschrecklichste ist, was uns passieren kann. Die Antwort war banal, genauso wie die Dinge, die wir brauchen, um leben zu können: essen, schlafen und ein Nest. Wir haben uns dann gefragt, wie wir das schaffen können, und sind auf kleine Kreise und Gruppen gekommen.«

Sie wollen kein Modell sein und fordern auch keine Sondereinrichtungen wie Frauenverrücktenhäuser oder Verrücktenhäuser für Lesben. Sie fordern von der Frauenfraktion, die sich um diese Fragen herumdrückt, (mindestens) Bewußtseinsbildung. Jede Einzelne soll selber formulieren, wie sie mit Verrückten umgehen will und was sie braucht, wenn sie selber verrückt wird. »Dann hat das, was ich in der Situation tu, eine ganz andere Basis.« Eine Schweizerin (»Auch bei Frauen muß man sich benehmen« und »Ich bin einfach unbequem. Die lernen das.«) war von diesem Vorschlag so begeistert, daß sie gleich ein bis zwei Resolutionen an die internationale Frauenszene losschicken wollte. Die Frauen zeigten sich etwas schockiert. Darauf die Schweizerin: »Macht nichts. Ist trotzdem schön gewesen in Berlin.«

Einen anderen Ansatz verfolgen Christine Edert und Klaus Mücke (Berlin) mit ihrem Zukunftsvorhaben Lebensraum. Sie wollen eine Einrichtung für »verrückte Zustände« schaffen. Es gibt in Deutschland bisher keine Fluchtorte, wo Wahn und Angst mit ständiger Begleitung und ohne Psychopharmaka durchlebt werden können. In normalen Irrenhäusern und therapeutischen Beziehungen ist dafür kein Platz, weder zeitlich noch kräftemäßig. Meistens fehlen auch Achtung und Respekt vor den Irren und ihrem Eigenleben. Das Projekt Lebensraum soll von nichtmedizinischen Therapeuten getragen werden, die für jeweils eine Person Tag und Nacht da sind, bis das Schlimmste vorbei ist. Die Zuhörer fanden das bis dahin ausgezeichnet, nur, als es dann mit »therapeutischem Team, therapeutischem Vertrag, Ausschluß von Gewalt und Drogen, Supervision, Stellenplan« losging, war der Ofen aus. »Was ist denn deren Antipsychiatrie. Das ist doch nur eine Selbstbeschaffungsmaßnahme von Arbeitsplätzen und wird dann sowas wie 'ne Edelpsychiatrie.« Falsch. Irrtum auf beiden Seiten. Die Zuhörer wollten eine ganz edle Alternative ohne Staatsgelder, wobei sie übersahen, daß auch Alternativprojekte Geld brauchen. Die beiden Projektvorführer merkten dafür erst spät, daß sie wie vor einer Senatskommission geredet hatten.

Konzepte haben einen bekannten Fehler. Irre und Psychiatriekritiker sind begeistert, haben aber kein Geld. Die auf dem Geld sitzen, lehnen die Konzepte offen ab oder versuchen tunlichst, um die Förderung drum herum zu kommen. Das geplante Weglaufhaus der Irrenoffensive Berlin hat diese Nöte. Aus der Psychiatrie weglaufen kann nur jemand, der gute Freunde mit guten Nerven, Zeit und ein zusätzliches Zimmer hat. Das ist selten. Meistens muß erzwungenermaßen ausgeharrt werden, bis die Psychiater Krankheitseinsicht, verläßliche Medikamenteneinnahme und die Chance zur »sozialen Eingliederung« bestätigen. Wer sich der Behandlung nicht unterwerfen will, bleibt länger. Mit einer derartigen Einrichtung könnten die Irren wenigstens vor dem planmäßigen Vollzug ihrer Normalisierung weglaufen und einen Funken Eigenständigkeit bewahren. Die psychiatrischen Einrichtungen hätten sich dann mit diesem neuartigen Zugewinn auseinanderzusetzen, was sicherlich sehr unbequem ist. In Berlin ist bereits ein Haus fürs Weglaufen gespendet worden, die laufenden Kosten sollten vom rot-grünen Senat übernommen werden. Der hatte in besseren Zeiten auch zugesagt, die Gelder aber wieder gesperrt, aus unerfindlichen Gründen und je näher der Wahlkampf rückte. Nach dem Platzen der Koalition und der Wahl wird die Sache wohl endgültig abgeblasen. Es sei denn, es geschieht ein Wunder.

Kostenlose Wunder gab es schon während der Tagung. Zeitweilig herrschte Reizklima, besonders wenn es um bezahlte Hilfeleistungen für Irre ging. Gereizt zeigten sich die Normalen, konnten aber den Grund nicht finden und stocherten in den üblichen Angriffsflächen herum. Diese Form von unausgesprochener Unzufriedenheit wurde von den Irren in schöner Weise umgewandelt. Sie erzählten Gescichten, die in scheinbarer Entfernung zum Thema standen und ins Schwarze trafen. Eine Leipzigerin sprach von ihrem Freundeskreis: »Neulich kam einer, der wollte sich umbringen. Wir haben dann mein Moped im Hof repariert«, und: »Ich will nicht mehr in eine Institution, die anderen auch nicht. Wir haben miteinander eine Sprache gefunden. Ich erlaube mir, mit den anderen umzugehen, wie ich will.« Mit genügendem Abstand von Anstalt und Normalisierungspersonal herrscht zwischen Irren oft eine unsentimentale Freundlichkeit und Gleichgültigkeit, die den anderen läßt. Am Abend nach dem zweiten Tag (Männer und Frauen hatten getrennt getagt) irren zwei Schweizerinnen, zwei Schweizer (einer davon kann jodeln), eine Schwäbin, eine Badenserin und ein Belgier durch die Berliner Nacht, auf dem Weg zum »kulturellen Nachspann« der Tagung. Fete in West-Berlin mit Theater und Live- Musik stand im Programm. Die Schweizer Weiber fragen schon grinsend ihren Eidgenossen: »Sag emol, wie war's bei eu Männerr. Hesch eb's kapiert?« Und er antwortet langsam: »Ha nui, gschtritte hont si. Iach hon it ussebringe chönne, warum.« Der flämische Belgier erklärt der Badenserin, was die Tagung soll: »Es entsteht jetzt eine internationale Vereinigung von Irren. Normale können auch dabei sein, aber die Irren haben das Sagen.« Er ist schon auf der Suche nach der Irren- Internationale. Den Text kann er selbst dichten, nur die Musik fehlt noch. Die Schwäbin erkundigt sich bei den Schweizern, ob sie das Migros (bekannte Schweizer Handelskette) kennen. Dann sollen sie ihr doch eine Karamelschokolade von dort schicken. Die Badenserin versucht sich im Jodeln, es werden ihr von Schweizer Seite gute Ansätze bescheinigt. Ein wunderbarer Spaziergang, ganz ohne therapeutischen Wert. Was zur Folge hatte, daß die Gruppe viel zu spät beim Fest erschien und Gisela Meyers Ein-Frau- Stück Chanella verpaßte. Gisela Meyer vom Atelier Blaumeier (das einzige freie, nichtpsychiatrische Kunstatelier Deutschlands mit Sitz in Bremen) tritt seit drei Jahren mit ihrem autobiographisch verfremdeten Psychopharmaka-Drama auf. Sie wird nächstes Jahr sechzig. Eine Freundin hat ihr dringend geraten, ab dann zumindest die schwarze Reizwäsche im Stück wegzulassen. »Nö«, sagt Gisela Meyer, »ich tret' doch nicht im Liebestöter auf. Die Reizwäsche bleibt, ob ich 80 oder 100 bin.«

Die Nachzügler kamen aber gerade noch rechtzeitig, um Detlef A.s scherz- und schmerzhafte Trilogie über das Leben zu sehen. Es fing harmlos an. Er rezitierte beispielsweise einen Schmachtfetzen aus der Schlagerlyrik der Sechziger im Sitzen, sprang auf und begann die Frau seiner Sehnsucht rennend herbeizubrüllen. Sie kam nicht. Ein Grazer außerhalb dieses Stücks dagegen stand plötzlich vor seinem weiblichen Gegenstück aus Ostdeutschland. Völlig gebannt voneinander bemerkten sie nicht die drei Weiber, die ebenfalls völlig gebannt auf diese traumartige Begegnung starrten. Der Grazer war es auch, der mir eine schockhafte Erkenntnis zukommen ließ. Die lautete ungefähr so: daß zumindest die versammelten Normalen eine große Zuneigung zu den Irren haben, die die Irren mit ihrer Art und Weise zu sein beantworten. Daß sie dabei immer etwas im Defizit zu den Fühlfähigkeiten der Irren stehen und ganz wie in unerfüllten Liebesgeschichten nicht genau wissen, wie sie es mit den Irren halten sollen. Und daß das der Grund ist, warum sie gleichzeitig die notwendigen Veränderungen ankurbeln und dabei furchtbar gereizt werden. Irre und Normale können sich nicht nur über Konzepte verbinden. Es bedarf einer Lust an der Andersartigkeit und der Möglichkeit zum absichtslosen Aufeinandertreffen. So jedenfalls stelle ich mir eine internationale Irrenmischkultur vor. Mit Antrag auf Jodelbeihilfe beim Kanton Graubünden. Gertrud Salm

Kontaktadresse: FAPI, Wiclefstraße 45, Berlin 21. Zeitschrift: 'FAPI-Nachrichten‘, zu beziehen dort oder bei Roland Goldack, Pestalozzistraße 14, 3500 Kassel.