Der deutsche nahe Osten

■ Ein Buch über die ehemalige DDR: informativ, unterhaltsam und nicht immer klischeefrei

Ein Buch über die ehemalige DDR: informativ,

unterhaltsam und nicht immer klischeefrei

VONANNETTELEO

Einen schönen Titel hat das neue Reisebuch von Elefantenpress. Die DDR ist wirklich der nahe Osten gewesen, ebenso nah wie unbekannt den meisten Bundesbürgern (oder sagt man jetzt Altbundesbürgern?). Das Wortspiel setzt sich fort im Bildspiel. Auf dem Einband sieht man ein zierliches orientalisches Minarett, dahinter die graue Fassade eines Neubaublocks. Das ist keine geschickte Montage, wie man vielleicht vermuten könnte, da auch eine erklärende Bildunterschrift fehlt, sondern dies ist das alte Wasserwerk im Zentrum von Potsdam. So romantisch und operettenhaft wurden im vergangenen Jahrhundert Industriebetriebe gebaut.

Das Reisebuch, herausgegeben von Susanne Raubold, sehr gut gestaltet, mit vielen empfindsamen Fotos, ist ein Buch für Interessierte, die schon einige Kenntnisse haben. Sehenswürdigkeiten und andere touristische Gesichtspunkte finden nur am Rande statt. Der Zugang ist mehr politisch. Die Beiträge beschreiben die DDR, wie sie vor einem halben Jahr und einige Zeit davor war. Und viele der Zustandsbeschreibungen sind weiterhin gültig, da der Staat DDR nicht mehr existiert, und ich Mühe habe, eine einigermaßen vernünftige Bezeichnung für dieses Stückchen Land zu finden, das schließlich die Heimat ist und bleibt.

Ich habe das Buch in einem Zug gelesen; dies ist ganz wörtlich gemeint, in der Eisenbahn, auf der Fahrt nach Frankreich durch die Bundesrepublik. Das war ein seltsamer Kontrast. Im Buch die vertrauten Bilder von den ländlichen Chausseen, vom trüben Laternenlicht, den zerfallenden Altstädten und draußen dieses reiche, ordentliche, gutverputzte Land. Habe Lust bekommen, einmal ein Reisebuch über den nahen Westen zu schreiben, so lange er mir noch fremd ist. (In der DDR hat es ja nie ein Reisebuch über die Bundesrepublik gegeben, das wäre schließlich der Gipfel der Verhöhnung für die eingesperrten Bürger gewesen!) Während mir die ersten Sätze für dieses imaginäre Buch durch den Kopf gingen, die natürlich vom Reichtum, der Sauberkeit, der Sterilität handelten, fiel mir auf, wie gefährlich nahe am Klischee solch ein fremder Blick auf ein Land sein kann.

Das Buch von Susanne Raubold ist dieser Gefahr nicht immer entgangen. Vor allem in den von Westautoren geschriebenen Beiträgen, bei denen es um allgemeine Eindrücke von Landschaften und Menschen geht, wo Reisen durch Mecklenburg, Thüringen, die Lausitz beschrieben werden, erstarren die schnellen Beobachtungen manchmal zu Formeln. Die abendliche Langeweile in der Kleinstadt, die Speisekarten in den Restaurants mit den riesigen Fleischportionen, die Lethargie und der Alkoholkonsum der Einheimischen, gemischt mit dem wehmütigen Blick auf das Kopfsteinpflaster und die Chausseebäume — das wiederholt sich und ermüdet bisweilen. Aber dann trifft man wieder auf Sätze und Wortbilder, die wunderbar genau und originell sind.

Zum Beispiel Stefan Schomann über die Ostseebäder: „...verfallen, aber nicht dekadent, die feinen Unterschiede wurden plattgewalzt. Die DDR hat das Künststück fertiggebracht, steril und schimmlig gleichzeitig zu sein.“ Oder Till Bartel (Im Zweitakt durch die Republik), von dem viele Fotos stammen, schreibt über die Zeitverschiebung zwischen Osten und Westen: „Bei diesem Ortswechsel innerhalb Mitteleuropas muß auch die Zeit an der Grenze eingetauscht werden, mindestens im Verhältnis eins zu drei. [...] Was sind schon sechs Stunden Zeitunterschied zwischen Berlin und New York im Vergleich zu der Kluft, die es zwischen Frankfurt/Main und Frankfurt/Oder zu überbrücken gilt? [...] Die Entdeckung der Langsamkeit beginnt beim Tee- oder Kaffeetrinken. Der Versuch, ein Stück des in blauweißem Pinguinpapier eingewickelten Würfelzuckers im heißen Tee aufzulösen, ist ein Musterbeispiel für den anderen Umgang mit der Zeit. Die langsame Auflösungsgeschwindigkeit im Teeglas steht proportional zu den schnellen Auflösungserscheinungen der Republik, die an jeder Straßenecke sichtbar werden.“

Diese schnellen Auflösungserscheinungen sind ein Problem für das Buch selbst. Es wurde im Frühjahr dieses Jahres geschrieben, als es die DDR noch gab, aber ihr baldiges Ende schon abzusehen war. Viele der Beiträge, die über spezielle Themen informieren, wie etwa Wirtschaft, Medien, Emanzipation der Frauen, Leistungssport, Rolle der Kirche und anderes werden bald unaktuell sein. Die neuen Entwicklungen, die uns erwarten, sind ja nicht vom jetzigen Zustand einfach hochzurechnen. Der Beitrag von Christoph Dieckmann über die Kirche im Sozialismus, mit dem schönen Titel Vom Versuch, die Zahnpasta wieder in die Tube zu kriegen hat mir sehr gut gefallen. Das ist eine ehrliche und selbstkritische Darstellung, ohne den nachträglichen Heiligenschein und widerspruchsvolle Erscheinungen zu legen.

Insgesamt bietet der Band eine Abwechslung von Information und Unterhaltung, von journalistischen und literarischen Texten. Es gibt Betrachtungen über Dresden, Leipzig, natürlich über Berlin und auch ganz ungewöhnliche Themen wie Krimis, Friedhöfe, Familiengeschichten. Schade, der Beitrag des Berliner Franzosen Alain Jadot beginnt so poetisch-humorvoll und endet dann viel zu rasch mit einigen Wortspielen. Ähnlich der Artikel der Herausgeberin Susanne Raubold, die empfindsam und leise die Geschichte einer Familie im Oberharz erzählt, von Alltag, Leid und Leidenschaften, Besitzgier und der Trennung durch die Grenze. Aber je näher die Handlung an die Gegenwart rückt und nicht nur aus Erzählungen, sondern aus dem Erleben der Autorin gespeist werden konnte, desto ungenauer und flacher wird die Darstellung.

Für mich der schönste Text des Buches ist die Geschichte von Uwe Johnson Jahrestage in Jerichow, der ausmalt, wie es aussehen würde, wenn „Jerichow zum Westen gekommen wäre“. Hier ahnt man die Zufälligkeiten von Schicksalen durch die Grenzziehung. Der zweitschönste Text ist die Beschreibung von Gabriel Garcia Marquez Die Stalinallee. Im Jahre 1959 hat der Kolumbianer mit seinem außereuropäischen Blick mehr gesehen als mancher im Jahre 1989. Er endet mit den Worten: „Man hat ausgerechnet, daß Berlin, wenn ein Krieg ausbricht, zwanzig Minuten überleben wird. Aber wenn er nicht ausbricht, werden die zwei Berlins in fünfzig, hundert Jahren, wenn eines der beiden Systeme die Oberhand gewonnen hat, eine einzige Stadt sein. Eine monströse Handelsmesse, die aus den Gratismustern der beiden Systeme besteht.“

Go East! DDR — der nahe Osten , Hrsg. Susanne Raubold, Elefantenpress-Verlag, 29,80 DM.