Mit Aquarellen verdeckte Seelenlandschaften

■ Expressionismus-Ausstellung in Münster

Die Bilder von expressionistischen Künstlern wie Kirchner oder Kandinsky sind weithin bekannt — sie gehören heute längst zum Kanon der modernen Kunst. Dabei wird jedoch vergessen, daß der Expressionismus in der bildenden Kunst nur Teil einer größeren künstlerischen Aufbruchsbewegung zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war. Maler, Schriftsteller und sogar Komponisten arbeiteten unter dem Grundgefühl einer Welterneuerung zusammen, um eine radikal subjektive Sicht auf die Wirklichkeit gegen die harmoniesüchtige Bürgerlichkeit zu setzen. Herrmann Bahrs Kommentar anläßlich einer Ausstellung der Sezessionisten in Wien ist dem gesamten Expressionismus zum Programm geworden: „Warum sollten nun rote Bäume gegen das Wesen der Kunst sein?“

Das zunächst vorwiegend ästhetische, später auch politische Pathos der Erneuerung meldete sich zwischen 1900 und 1930 vor allem in einer aufblühenden Zeitschriftenkultur zu Wort. Doppelbegabungen der Künstler Meidner, Kubin oder Barlach lassen die uns heute so vertrauten Stichworte wie „Interdisziplinarität“ oder „Gesamtkunstwerk“ in einem anderen Licht erscheinen. Diese gelungenen Symbiosen von Buchidee und Illustration, von Text und Typographie sind derzeit mit 180 Exponaten unter dem Titel Illustrierte Bücher des Expressionismus im Westfälischen Landesmuseum Münster ausgestellt.

Die Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts plötzlich ausbrechenden Proteste gegen die etablierte Kunst sind für uns heute eben nicht nur mit Hilfe großflächiger Aquarelle oder schreiend bunter Ölgemälde eines Beckmann oder Macke nachvollziehbar. Vielmehr gab es in dieser Zeit eine Unzahl von Veröffentlichungen auf dem Buch- und Zeitschriftenmarkt, die das Lebensgefühl der Künstler wesentlich differenzierter widerspiegeln. Wort und Bildausdruck kommentieren sich in den Ausstellungsstücken wechselseitig.

Schon 1908 erscheint eine ursprünglich als Kinderbuch geplante Bilddichtung Kokoschkas, von der zwei Bilder in die Ausstellung aufgenommen worden sind. Insgesamt acht noch stark an der Ornamentik des Jugendstils angelehnte Farblithographien umrahmen die Verse des Malers. Sie stellen die menschliche Gefühlswelt dar, ohne in die gängige naive Romantisierung abzugleiten. Der Ausstellungsbesucher kann verfolgen, wie nach Kokoschka junge Künstlergruppen die Auseinandersetzung mit dem neuen Subjektivismus wesentlich „expressiver“ fortsetzen. Während sich in München Kandinsky und Marc in ihrem Almanach Der blaue Reiter mit harmonischen Farbkompositionen dem Thema annähern, wagen die Brücke- Mitglieder in Dresden einen aggressiven und desillusionierenden Angriff auf das selbstgefällige Bürgertum.

Die schon fast grobschlächtigen, harten Holzschnitte Heckels oder Kirchners stehen in merkwürdigem Gegensatz zu den sanften Illustrationen des Almanachs vom Blauen Reiter. Die einen zerren mit nahezu teutonischer Gewalt, die dem Holzschnitt immer eigen ist, den einzelnen Menschen ungeschützt vor das Auge des Betrachters. Die anderen versuchen, mit Aquarellen verdeckte Seelenlandschaften zu beschreiben, und begründen mit zusätzlichen Textbeiträgen eine neue Kunsttheorie. Die erste Phase des Expressionismus gilt als revolutionär und provoziert dementsprechend auch den Ärger des „ordentlichen“ Bürgers.

Die Ausstellung dokumentiert, wie die erste Kriegsbegeisterung der Expressionisten einer pazifistischen Gesinnung weicht. Seewalds Illustrationen zu Klabunds Gedichtband Kleines Bilderbuch vom Krieg verniedlichen den Kampf noch zum spielerischen Abenteuer für Reiter mit Lanze und Schwert. Zur gleichen Zeit werden dagegen Texte der engagierten Pazifisten Carl Sternheim und Leonhard Frank mit zeitkritischen Lithographien illustriert. Die zu Beginn nur aus ästhetischen Gründen verschmähten Expressionisten entdecken jetzt zunehmend „linke“ politische Ziele. Gerade diese Bilder ermöglichen es dem Ausstellungsbesucher, zu verstehen, welches Ausmaß an menschlichem Elend der Erste Weltkrieg provozierte. Franks Erzählung Die Mutter, die der Belgier Masereel mit seinen Holzschnitten in düstere Motive übersetzt, macht aus dem Töten Präzisionsarbeit: „Es wurde handwerklich und ganz lautlos gemordet. Es wurde gearbeitet.“ Georges Grosz entwirft gegen Ende des Krieges eine Mappe mit dem ironischen Titel Gott mit Uns. Er nimmt dabei die auf dem Koppelschloß der deutschen Soldaten eingeprägte Lösung zum Anlaß, die Doppelmoral der Reichswehr bitterböse zu karikieren. Kurz danach wird er wegen „Beleidigung der Reichswehr“ vor dem Landgericht Berlin unter reger Anteilnahme von Presse und Öffentlichkeit angeklagt.

Das vom Erneuerungswillen getragene Aufbruchspathos verliert sich allerdings bald wieder. Mit dem Kriegsende büßt der Expressionismus auch seine politisch engagierte Ausdruckskraft ein. Gesellschaftlicher Widerstand ist nicht mehr gefragt. Das chronologische Konzept der Ausstellung präsentiert in den Vitrinen für die goldenen zwanziger Jahre gefällige Jahrbücher und Kunstzeitschriften mit schnittigem Design. Die Einbände der in Leder gebundenen Luxusbuchausgaben werden jetzt vom ehemaligen Expressionisten verziert, um dem Bildungsbürgertum einen kulturellen Leckerbissen zu servieren. Der Kontrast zwischen dem Anfang der expressionistischen Bewegung und ihrem Ende könnte nicht augenfälliger gezeigt werden. Erst der Nationalsozialismus, der die Bücher und Bilder ins Feuer warf, erforderte ein erneutes, allerdings vergebliches Engagement der Künstler. Ab 1930 gibt es mehrere Neuerscheinungen, in denen die nationalsozialistischen Machthaber die Textillustrationen expressionistischer Maler nur noch zur Abschreckung vorführen: „entartete Kunst“.

Es ist daher kein Zufall, daß die Exponate, die bisher nur in Florenz und Berlin ausgestellt wurden, in der Mehrzahl aus einer ausländischen Privatsammlung stammen. Da viele Sammler und Galeristen nach dem Zweiten Weltkrieg die wenigen noch greifbaren Schnitte und Druckgraphiken für eine „schnelle Mark“ aus den Zeitschriften und Büchern herausgetrennt haben, bietet die Ausstellung eine Reihe von Raritäten. Man kann daher von einem Glücksfall reden, daß diese einmalige Verbindung von expressionistischen Illustrationen und schriftstellerischem Werk überhaupt noch in einem größeren Überblick zugänglich ist. Der Ausstellungsleiter verhandelt zur Zeit mit einigen anderen Städten in Süddeutschland über weitere Stationen der Sammlung. In Münster sind die Exponate noch bis zum 1.Januar 1991 zu sehen. Bernd Rasche/Nicola Tigges