Nachsicht mit den ehrenwerten Herren

■ Frankreichs Justiz verschleppt drei Verfahren gegen prominente Vichy-Kollaborateure

Ohne Besetzung durch Nazi-Deutschland hätte es kein Vichy-Regime in Frankreich gegeben. Doch ebenso ist richtig, daß ohne die mehr als passive Kollaboration französischer Stellen die Deportation von 76.000 Juden aus Frankreich nicht möglich gewesen wäre. Nach der Befreiung und den wilden Exekutionen des Jahres 1944 (etwa 10.000 Erschießungen) wurden 160.000 Dossiers über Kollaborateure angelegt. Rund die Hälfte der Verdächtigten wurde freigesprochen, ein Viertel der bürgerlichen Ehrenrechte enthoben, 7.037 Todesurteile verhängt und 767 Todesurteilte vollstreckt. Marschall P'etain wurde von de Gaulle zu lebenslänglicher Verbannung begnadigt.

Zur Zeit sind drei Verfahren gegen ehemalige Vichy- Verantwortliche anhängig. Giscard d'Estaings ehemaliger Budgetminister Maurice Papon, heute 80 Jahre alt, wurde 1983 wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ angezeigt. Später wurde die Anzeige in „Mittäterschaft“ abgeschwächt. Papon war zwischen 1942 und 1944 Vizepräfekt in Bordeaux und damit zuständig für die Polizeiverwaltung. Die Akte Papon ruht seit acht Jahren beim Ermittlungsrichter — in Bordeaux...

Die Anzeige gegen den Polizeichef des Vichy-Regimes, René Bousquet hat noch nicht zur Eröffnung eines Verfahrens geführt. Am „weitesten fortgeschritten“ sind die Ermittlungen im Verfahren gegen Paul Touvier, 76 Jahre alt. Der ehemalige Milizoffizier wird verdächtigt, 1944 an der Ermordung von Victor Basch, dem damaligen Präsidenten der Menschenrechtsliga, sowie an zwei Massakern beteiligt gewesen zu sein. Geschützt von einem klerikalen Orden, gelang es Touvier, sich bis 1989 verborgen zu halten. Seit er im Mai 1989 in Nizza gefaßt wurde, sitzt Touvier in Untersuchungshaft. Ein Prozeßbeginn ist nicht abzusehen.

In allen Fällen sind es die Opfer bzw. deren Angehörige, die Anzeige erstattet haben. Und in allen Fällen „sind die Prozesse am toten Punkt. [...] Ich glaube, sie profitieren von einer wahrhaftigen Klassensolidarität. Man verfolgt keinen Mann, der Minister oder Präfekt gewesen ist, weil er zu einem Milieu gehört, das nicht daran interessiert ist, schmutzige Wäsche zu waschen“, so Yves Jouffa, Präsident der internationalen Gesellschaft für Menschenrechte.

Zu diesen drei Verfahren ist jetzt ein kurioses viertes dazugekommen: Maurice Papon hat die Wochenzeitung 'Le Nouvel Observateur‘ wegen Verunglimpfung angezeigt, um, wie er sagt, ein für allemal seine Unschuld gerichtlich bestätigt zu bekommen. Die Zeitschrift hatte ein Dossier über die „Komplizen am Völkermord“ veröffentlicht. „Man versucht doch nur, Frankreich anzuschwärzen. Es soll der Anschein erweckt werden, daß Frankreich am Genozid beteiligt gewesen wäre“, erklärte Papon im Fernsehen. Ein heikles Unternehmen, dieser Prozeß. In seiner Funktion war Papon direkt für Judenfragen zuständig. Papon hatte sowohl die „Arisierung“ des Vermögens jüdischer Franzosen zu überwachen, als auch die Listen für die Deportationen anzulegen. Seine Dienststelle organisierte in Zusammenarbeit mit Bousquet die Razzien, die zur Ermordung von mehreren hundert Juden aus Bordeaux führen sollten. Doch inwieweit war Papon persönlich verantwortlich? Dank Papons verletzter Würde könnte es doch noch zu einer vor Gericht geführten Debatte über die Täter von Vichy kommen. smo