Monsieur B. im Dienst des wahren Frankreichs

Die Staatsspitze in Paris setzt alles daran, dem Polizeichef des Vichy-Regimes, René Bousquet, einen Prozeß zu ersparen/ Präsident Mitterrand hat kein Interesse, solcherlei Honoratioren am Zeug zu flicken/ Die hehre Résistance-Erinnerung könnte durch späte Verräterprozesse beschädigt werden  ■ Aus Paris Alexander Smoltczyk

Wie jeden Sonntagmorgen sammeln sich die Gläubigen der Gemeinde vor ihrer Kirche Saint-Nicolas-du-Chardonnet, im Rücken des Boulevard Saint-Germain, mitten im Quartier Latin. Vor dem Portal brannten einst die Scheiterhaufen der Hugenotten, heute ist Lehrreiches für die Brüder und Schwestern im Geiste ausgelegt. Etwa die Abonnements-Zeitschrift Annalen des Revisionismus oder das Standardwerk Die Juden im Frankreich von heute. Ein Antiquar vertreibt Antiquiertes, so die Schrift aus den Vierzigern Woran erkennt man die Juden?. Wie jeden Sonntagmorgen also haben sich etwa 900 Menschen in die Kirchenbänke gequetscht. Manche kommen aus den feineren Vierteln im Westen der Stadt. Das ist an den weißen Spitzenschleiern der Frauen zu erkennen und an den runden Hütchen der Mädchen im blauen Kostüm. Königstreue Studenten sind zu sehen, blasse Greise und Jünglinge mit Ultrakurzhaarschnitt.

„Wir vertreten das wahre Frankreich. Es ist die heilige Pflicht jedes Christen, die soziale und nationale Ordnung wiederherzustellen“, ruft Abb Lague'rie, nachdem er die lateinische Litanei gemäß dem Ritus von Pius V. beendet hat. Zum „Widerstand“ fordert er auf, gegen den Holocaust an Babys und die Herren dieser verderbten Welt, die Kommunisten und Freimaurer. Das freut das Publikum, weil man es ja immer schon gewußt hat. Noch ein Halleluja, und mit genügend Wir-Gefühl für eine Woche versehen, kehrt das wahre Frankreich, mit Hütchen und Spitzenschleier, in seine eleganten Viertel im Westen zurück.

Ein Herr namens Bousquet

Dort, im 16. Bezirk wohnt Monsieur Bousquet, auch er ein wahrer Franzose und dazu noch Blüte des höchsten Beamtenadels. Schon mit 18 Jahren Rechtsanwalt, kurz danach Ritter der Ehrenlegion und Kabinettschef des Innenministers. Das war kurz vor dem Krieg. Nach dem Krieg wurde René Bousquet Generaldirektor der berühmten Indochina-Bank, später sogar Aufsichtsratsmitglied des Indosuez-Trusts. Heute lebt er, 81jährig, in Frieden von seiner Beamten- und Bankiersrente. Ab und zu sieht man ihn seinen Hund ausführen.

In einem Büro im 8. Bezirk sitzt Serge Klarsfeld, den die zivilen Kreuzritter von Saint-Nicolas-du- Chardonnet vermutlich nicht zum wahren Frankreich zählen würden. 1942 mußte Klarsfelds Familie nach Nizza fliehen, weil der Polizeichef des Vichy-Regimes den deutschen Okkupanten am 2. Juli 1942 versprochen hatte, „im gesamten Frankreich in einer einheitlich durchgeführten Aktion Juden ausländischer Staatsangehörigkeit in der von uns gewünschten Höhe festnehmen zu lassen“. So notierte es der SS-Standartenführer Helmut Knochen. Und in der Hoffnung, alsbald wieder das Kommando über die französische Polizei der besetzten Zone zu erhalten, hatte der Polizeichef von Vichy auch noch die Festnahme und Deportation von 5.000 französischen Juden durch reguläre Polizeitruppen angeordnet. In einem Telex vom 18. August 1942 befahl er seinem Vertreter Jean Legay zugleich die Verschleppung von mehr als 3.000 Kindern staatenloser Juden nach Auschwitz. In Frankreich geborene Kinder von Staatenlosen waren laut Gesetz zwar eigentlich französische Staatsbürger. Aber damit womöglich noch keine wahren Franzosen, also keine Sentimentalitäten, Herr Polizeichef. Und wie hieß dieser Beamte? René Bousquet hieß er.

Ruhe im Rechtsstaat

1949 wurde Monsieur Bousquet zu fünf Jahren Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt, aber sogleich amnestiert. „Ich habe es systematisch abgelehnt, mich mit Judenfragen zu beschäftigen“, gab er zu Protokoll und verschwieg die Konferenz am 2. Juli 1942. Der Staatsgerichtshof hielt es auch nicht für notwendig, einen Blick in die entsprechenden Dokumente zu werfen. Immerhin ein nobler Herr, dieser René Bousquet, Ritter der Ehrenlegion. So blieb es einem gelernten Historiker und Rechtsanwalt überlassen, nämlich Serge Klarsfeld, der im Gegensatz zu seiner Familie überlebte, die Dokumente zu sammeln und zu veröffentlichen. Dann stellte Klarsfeld im September 1989 und im Namen der Überlebenden Anklage gegen René Bousquet. Wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das war jener unverjährbare Tatbestand, für den Klaus Barbie 1987 zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden war.

Ein Jahr lang wird die Anklageschrift durch die Gänge des Pariser Justizpalastes getragen. Dann passiert etwas Sonderbares. Am 25. September beschließt die Staatsanwaltschaft des Berufungsgerichts, ein Verfahren gegen Bousquet zu eröffnen. Gut zwei Wochen später heißt es plötzlich: Kommando kehrt! Der Staatsanwalt habe sich „geirrt“, das Berufungsgericht müsse sich für inkompetent erklären. Denn in Wirklichkeit sei der „Hohe Gerichtshof der Lib'eration“ für den Fall Bousquet zuständig — eine Institution der unmittelbaren Nachkriegszeit, deren Mitglieder laut Gesetz aus einer Liste von „fünfzig Senatoren oder Abgeordnete, die am 1. September 1939 ihr Mandat innehatten“, ausgewählt werden müssen. Schon rein biologisch eine Unmöglichkeit — knapp fünfzig Jahre nach der Befreiung.

Serge Klarsfeld hat eine Erklärung. Er sagt: „Es handelt sich um eine politische Intervention des Elys'ee-Palastes. Der Präsident der Republik möchte keinen Bousquet-Prozeß. Warum nicht? Ich nenne es eine soziologische Protektion. Es ist immer unangenehm, respektable Leute zu verurteilen, zumal wenn sie nach dem Krieg ihre Karriere fortgesetzt haben. In Deutschland kennen Sie das ja von Kiesinger. Bousquet, den Großbankier, Papon, den Minister, Leguay, den Geschäftsmann — die kann man nicht so einfach vor Gericht stellen wie Klaus Barbie, einen sozial Deklassierten aus dem Ausland. Es war eine unangenehme Überraschung für mich, feststellen zu müssen, daß Mitterrand in seinen Büchern kaum jemals über Vichy spricht. Mitterrand hat seine Karriere unter Vichy begonnen. Er kam 1942 aus der Kriegsgefangenschaft und arbeitete im Kommissariat für die Kriegsgefangenen. Er hat eine gute Arbeit geleistet, aber er wird niemals P'etain und seinen Regierungschef Laval mit den gleichen Augen sehen können, wie eine jüdische Familie, die von französischen Gendarmen nach Auschwitz deportiert wurden.“

Das Vichy-Syndrom

Im Gegensatz zur Résistance ist die Kollaboration niemals zum Gegenstand öffentlicher Debatten geworden. Stanley Hoffmann, der franko- amerikanische Historiker, meinte kürzlich am Rande eines Vichy-Kolloquiums in Paris: „Die gesamte repressive Seite der Kollaboration ist bis heute nicht gut aufgearbeitet worden. Und die jüngeren Historiker interessieren sich heute mehr für die Geschichte des Imaginären und der Mentalitätsbrüche als für die politische Geschichte ihres Landes.“ General de Gaulle, dessen Todestag in diesem Jahr mit verdächtiger Pracht gefeiert wird, ist es zu verdanken, daß auch in Frankreich Erinnerung als organisiertes Vergessen praktiziert werden konnte. Hatte er nicht bei der Befreiung von Paris erklärt, es gäbe nur „das einzige Frankreich, das wahre Frankreich, das ewige Frankreich“, und eben dieses habe sich selbst befreit? Ein genialer Dreisatz: la Résistance, c'est de Gaulle, de Gaulle, c'est la France also ist Frankreich die Résistance. Logo. Vichy, jener Ausdruck einer antisemitischen, antirepublikanischen und klerikalen Tradition, die sich vom Dreyfus-Prozeß bis in die Sonntagsmesse von Saint-Nicolas-du-Chardonnet durch die Geschichte Frankreichs zieht, wurde eine Generation lang erfolgreich verdrängt.

Erst, so der Historiker Henry Rousso in seinem Buch über Das Vichy-Syndrom, erst das Ende de Gaulles, verbunden mit dem Erwachen jüdischen Selbstbewußtseins im Frankreich der siebziger Jahre und ausgelöst 1971 durch Marcel Ophüls Film Le Chagrin et la Piti'e habe eine Neubewertung Vichys ermöglicht. Als Pompidou Ende 1971 den Milizführer Paul Touvier klammheimlich begnadigen wollte, brach prompt ein Sturm der Entrüstung aus: Pompidou, der Mitläufer, hatte nicht mehr die symbolische Größe, ein Vergeben nicht als Nachgeben erscheinen zu lassen.

Zivilen Frieden wahren

Doch zurück zum Fall Bousquet. Klarsfeld löste einen kleinen Skandal aus, als er darauf hinwies, daß Klaus Barbie von einem Justizminister Badinter vor Gericht gestellt wurde, dessen Vater von den Nazis ermordet worden war, während heute ein delegierter Justizminister, der ebenfalls Sohn eines Deportierten ist, dafür sorgt, daß es keinen Vichy-Prozeß geben wird. Darauf antwortete der gemeinte Minister und Mitterrand- Vertraute, Georges Kiejman: „Es mag von Wichtigkeit sein, den zivilen Frieden zu bewahren. Es gibt andere Mittel, die Feigheit des Vichy- Regimes anzuprangern als einen Prozeß.“ Der zivile Frieden — damit hatte auch Advokat Verges, der Verteidiger Barbies, argumentiert. Ob es dem zivilen Frieden dient, wenn Opfer ihre Täter dabei beobachten müssen, wie sie friedlich ihren Hund ausführen, ist eine andere Frage.

Angesichts der elysischen Blockaden mobilisierte sich die Öffentlichkeit. Die Kinder der Deportierten demonstrierten vor den Präfekturen. Die Internationale Menschenrechtskommission schickte sogar eine Juristenkommission nach Frankreich, um die laufenden Verfahren unter die Lupe zu nehmen. In Bordeaux allerdings wurde die Delegation gar nicht erst vorgelassen. Dort wird seit neun Jahren ein Ermittlungsverfahren gegen den ehemaligen Giscard-Minister Maurice Papon über die Büroschreibtische geschoben (siehe Kasten). Auch die Ermittlungen im Fall Paul Touvier, der sich 40 Jahre lang mit Hilfe des katholischen Klerus und anderer Kräfte des wahren Frankreichs versteckt halten konnte, treten auf der Stelle. Nachdem sie ihre Rundreise abgeschlossen hatte, mußte die Juristenkommission feststellen: „Es fehlt an politischem Willen, diese Affären in einer angemessenen Frist zu richten.“

Das Barbie-Verfahren hatte einschließlich der unmittelbaren Prozeßvorbereitung drei Jahre gedauert. Auch das Verfahren gegen Bousquet könnte sehr rasch abgewickelt werden. Denn bereits 1979 hatte die Staatsanwaltschaft gegen Bousquets Untergebenen Jean Legay, der nach dem Krieg ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden war, Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit erhoben. Damit hatte eine juristische Institution zum ersten Mal einen französischen Vichy-Verantwortlichen der Mittäterschaft angeklagt, und nicht nur der Mitarbeiterschaft (wie „Collaboration“ wörtlich zu übersetzen ist). Zum Prozeß sollte es jedoch nie kommen: Giscard und Mitterrand haben es zu verantworten, daß die Akte Legay zehn Jahre lang vor sich hin staubte, bis der Angeklagte schließlich, am 2. Juli letzten Jahres in Frieden verschied.

Nichts weist darauf hin, daß es dem Verfahren Bousquet anders ergehen könnte. Zwar hat der Druck der Öffentlichkeit dazu geführt, daß das Berufungsgericht sich am 19. November — entgegen der Empfehlung des Staatsanwalts und zur großen Überraschung aller Beteiligten — doch als zuständig erklärte. Das Gericht berief sich auf den Artikel 6 der europäischen Menschenrechtskonvention, wonach jeder Bürger das Recht auf angemessen zügige Behandlung seiner Klage habe. Doch selbst wenn die Richter nach (im Zweifelsfall jahrelangen) Ermittlungen zu dem Schluß kommen, daß ein Prozeß gegen Vichys Polizeichef eröffnet werden müßte, selbst dann haben sie nicht das Recht, diesen Prozeß auch selbst zu führen. Solange die Nationalversammlung jenen „Hohen Gerichtshof der Lib'eration“ nicht auflöst, bleibt dieses Phantomgericht formell für die Verurteilung höherer Beamter zuständig. Ein Gericht, dessen potentielle Richter längst im Jenseits weilen, gemeinsam mit den Opfern Vichys und demnächst wohl auch mit den Tätern. Requiescat in pace.