Ende des Projekts oder Projekt ohne Ende

■ Gorbatschow sucht erneut den Schulterschluß mit der Betonfraktion KOMMENTAR

Ganze fünf Jahre hat Gorbatschow die Welt in Atem gehalten. Anfangs brauchte es lange, bis man im Westen bereit war, dem ambitionierten Projekt des neuen Generalsekretärs Vertrauen entgegenzubringen. War die Hemmschwelle aber ersteinmal überwunden, stieß man dafür umso euphorischer ins Horn. Kritik im Zusammenhang mit dem Generalsekretär? Das grenzte an Majestätsbeleidigung. Geradeso als fände Politik unter Laboratoriumsbedingungen statt, wo sich Störfaktoren isolieren lassen. Nun, da der Rohbau steht, das Geld aber ausgegangen ist, und die Baustelle erstmal stillgelegt wird, sind es auffälligerweise wieder dieselben Stimmen, die die Sowjetunion in einem Winter der Generäle erstarren sehen. Beides, das Zögern wie die überschnellen Prognosen, sind zwei Seiten ein und derselben Medaille.

Bei alldem wird übersehen, daß der Umbau der Sowjetgesellschaft eben mehr ist als eine Regierungsumbildung und ein Elitenrevirement westlichen Typs. Diese Gesellschaft hat erst vor fünf Jahren den Weg in eine andere politische Kultur angetreten, von der sie auch aus vorrevolutionären Zeiten nicht einmal den Hauch einer historischen Ahnung mitbrachte. Ringt die alte politische Klasse heute — im dumpfen Wissen, daß ihre Zeit gekommen ist — noch einmal verzweifelt um ihre Position, so stehen die oppositionellen Kräfte vor der Frage, wohin es eigentlich gehen soll. Bisher wissen sie nur, was sie nicht wollen. Daß in dieser Periode Stillstand, Brüche und Rückschläge auftreten, darf nicht verwundern. Wo hätte bei derartigen historischen Zäsuren die überalterte Macht jemals kampflos das Terrain geräumt, ohne noch einmal um sich zu schlagen? Mit dem derzeitigen Aufbäumen der konservativen Kräfte ist die Perestroika gerade am Ende der ersten Etappe angelangt, die man mit Demontage umschreiben könnte. Darüber hinaus suchen alle Strategen einer zuvor im Glauben an Egalität gehaltenen Gesellschaft nach einem neuen Platz der Selbstverortung. Daß sich dieser im Umbruch noch gar nicht bestimmen läßt, muß zwangsläufig zu Verunsicherungen und in der Folge zu Friktionen führen.

Trotz aller noch denkbaren Wirren läßt sich die Entwicklung nicht rückgängig machen. Weder von geifernden Militärs, die ohnehin vorm Pensionsalter stehen, noch von Parteiapparatschiks, denen scharenweise die Mitglieder davonlaufen. Das ist Gorbatschows bleibendes Verdienst. Ironischerweise ist es Gorbatschow selbst, der in Zeiten der Zuspitzung dann doch wieder den Schulterschluß mit diesen Kräften sucht, um seine Macht zu erhalten. Gorbatschow hat Übermenschliches geleistet. Doch nun sind seine Visionen erschöpft. Die Weiterführung des Umbauprojektes werden andere übernehmen. Wer und wie steht noch nicht fest. Vor allem wird es sich hinziehen und dem Westen eine Menge Geduld abverlangen.

Das Stadium der Demontage war noch gekennzeichnet von einer Konstante in der russischen Geschichte, die der Philosoph Tschaadajew schon im 19. Jahrhundert beklagte: „Jede neue Idee verdrängt [bei uns] spurlos die alten, weil sie nicht aus ihnen hervorgeht, sondern von sonstwoher zu uns kommt. Weil wir immer nur fertige Ideen aufnehmen, bilden sich in unserem Gehirn nicht die unauslöschlichen Furchen, die die konsequente Entwicklung in die Köpfe prägt und die ihre Stärke ist.“ An der Überwindung dieses Problems laboriert die Sowjetunion gerade, und man sollte ihr Zeit geben. Klaus-Helge Donath