Haitis Favorit heißt „Vater Titid“

■ Ein Armenpfarrer hat Chancen, morgen auf der Karibikinsel die Wahl zu gewinnen PORTRAIT

Berlin (taz) — Im Armenhaus Amerikas, auf der Karibikinsel Haiti, zeichnet sich Spektakuläres ab. Kein abgehalfteter Militär, kein neuer Politiker der alten Elite, kein in den USA ausgebildeter Technokrat hat die besten Aussichten, am Sonntag aus den Präsidentschaftswahlen als Sieger hervorzugehen, sondern ein 37jähriger Pater: Jean-Bertrand Aristide, Pfarrer einer Gemeinde in einem Elendsviertel der Hauptstadt Port-au-Prince. „Vater Titid“, wie ihn seine Anhänger in einer Mischung aus Zärtlichkeit und Ehrfurcht nennen, hatte bereits als Führer der haitianischen „Volkskirche“ die Gläubigen zum Widerstand gegen die Duvalier-Diktatur und die nachfolgenden Militärregimes mobilisiert. „Man muß gegen die teuflischen Kräfte der institutionalisierten Gewalt den Widerstand organisieren“, hatte der Doktor in Bibelexegese einen Monat vor der Flucht von Jean-Claude Duvalier alias „Baby Doc“ 1986 verkündet, und heute fordert er nicht weniger radikal die Enteignung der Reichen.

Aristide kandidiert für eine Koalition kleiner linker Splitterparteien, die sich „Nationale Front der Demokratischen Konvergenz“ nennt, und liegt Meinungsumfragen zufolge vor Marc Bazin, einem Weltbank-Beamten, der klar von den Vereinigten Staaten favorisiert wird. Neun weitere Präsidentschaftskandidaten können wohl unter „ferner liefen“ abgehandelt werden. Fünfzehn Kandidaten wurden vom Wahlrat nicht zugelassen, unter anderem Roger Lafontant, der Duvalier als Innenminister gedient hatte und gegen den ein nicht vollstreckter Haftbefehl wegen Folter, Mordes und illegaler Bereicherung vorliegt.

Unter dem Militärregime von General Namphy, das die Duvalier-Diktatur ablöste, geriet Jean-Bertrand Aristide wegen seiner pastoralen Arbeit immer öfter ins Schußfeld der Amtskirche. Der Salesianierorden, aus dem er vor zwei Jahren ausgeschlossen wurde, ließ ihn wegen seiner Aktivitäten 1987 strafversetzen, nahm die Entscheidung aber unter dem Druck des Protestes der Straße zurück. Die haitianische Bischofskonferenz verurteilte die Politisierung der in der Volkskirche zusammengeschlossenen Basisgemeinden in einem Dokument, und heute werden die Positionen des streitbaren Paters von zahlreichen Kanzeln herab scharf gerügt.

Die wirkliche Gefahr für Jean-Bertrand Aristide kommt anderswoher, von den Mörderbanden der „Tontons Macoutes“, der offiziell längst aufgelösten privaten Geheimarmee der Duvalier-Diktatur. Vor zwei Jahren stürmten an die hundert mit Steinen, Stöcken und Revolvern maskierte Männer die Kirche, in der der Pater gerade eine Messe für die Beibehaltung der Verfassung las, die General Namphy außer Kraft gesetzt hatte. Die Attentäter töteten in der Kirche fünf Gläubige. Siebzig blieben schwerverletzt zurück. Aristide konnte wie durch ein Wunder entkommen. Der Bürgermeister von Port-au- Prince, Franck Romain, kommentierte den Überfall mit den Worten: „Wer Wind sät, wird Sturm ernten.“

Der versprochene Sturm kam immer wieder. Mindestens vier Attentate hat Aristide überlebt, das jüngste, am 5. Dezember, kostete sieben Menschen das Leben. Ihre Leichen wurden vorgestern von über 10.000 Demonstranten zum Friedhof begleitet. Es wurde eine Wahlkundgebung für „Titid“, der alle Chancen hat, Präsident zu werden, wenn die Wahlen korrekt ablaufen, was mit Blick auf die jüngste Geschichte der Karibikinsel allerdings bezweifelt werden darf — und wenn sie nicht, wie vor drei Jahren, in einem Blutbad enden. Während des Wahlkampfs hat sich Jean-Bertrand Aristide vor den Mörderbanden der Tontons Macoutes versteckt, die aus den Kasernen heraus operieren. Als Präsident wird das kaum möglich sein. Thomas Schmid