Gruft und Blut und gut

■ Andras Fricsays „Hamlet“ im Goethetheater / Premiere in schwarzweiß / Neue Bühnentechnik

Ein Mann wird vom Geist seines Vaters aufgefordert, Rache zu nehmen. Der Vater starb durch Brudermord, der Bruder nahm die am Komplott beteiligte Witwe zur Frau. Der Mann zweifelt, hat Bedenken, sucht Beweise, verpaßt alle Chancen. Das Ende ist so tragisch wie blutig; das Gemetzel überlebt nur ein Berichterstatter.

Hamlet-Inszenierungen schlagen sich üblicherweise mit der Frage herum, woher dieser abendlänische Mann-Mythos (wie Prometheus/Faust) das Zaudern hat. Ist es Wahn, Intelligenz, feminine Sensibilität, Melancholie, Nihilismus? Andras Fricsay gibt uns in seiner Inszenierung keinen neuen Hamlet.

Innenraum einer gotischen Kathedrale, futuristisch schrägfluchtende Pfeiler, Empore mit Orgel und Organist (Bühne und Kostüme: Jorge Villareal). Die leicht gebrochene Illusion einer Halle, die auf mehreren Ebenen hintereinander bespielbar ist. Vom Bühnenbild über die Kostüme, Maske bis zum Butterbrotpapier des Totengräbers: Es gibt keine Farbe. Alles ist grau, silbrig, schwarz oder weiß (bis auf die roten Ohren der Akteure); und da haben wir auch schon die Inszenierungsidee Fricsays: Farb- Entzug. Die Welt eine Gruft. Die SpielerInnen gleißende Gespenster. Die Frage, die das Volk bewegt: Wann wird Farbe wie? Die ambitiöse Antwort: Kommt Blut, kommt Rot. Das war's. Aufwendig gemacht, radikal und perfekt durchgehalten, Gruft und Blut und gut. Der Rest ist Schweigen.

Das heißt, der Rest ist angesichts der Ausmaße des Stücks (vier Stunden!) ordentlich gespielt, Versprecher, Verstolperer und falsche Musikeinsätze störten nicht grundsätzlich. Es war immerhin über eine halbe Hundertschaft auf der Bühne zu koordinieren. Eine herausragende Leistung (auch physisch) bot der Darsteller des Hamlet, Andreas Grothgar, der aussieht wie der junge Chaplin, weißes Rupfhaar, Motorradstiefel und verschiedene weiche Lederwesten: Unglaublich durchgehaltene Präsenz, gute Stimme, die Laufarbeit eines Rechtsaußen sowie sehr differenzierter Ausdruck. Angry young boy, grotesker Possenreißer, verzweifelter Ödipus. In routinierter Güte Fried Gärtner als Küster, Geist und Totengräber. Zu transparent dagegen Pamela Knaack als Ophelia, die stimmlich auf ein Mikrophon angewiesen ist.

Der Rest, das sind so Ideen, die der Ensemble-Familie gekommen sind. Denn bei Shakespeare, dessen „gigantische Welten... für jeden einzelnen Menschen einfach zu groß sind... kann man getrost drauflos marschieren, einfach hineinlaufen und die Welt, die man dabei entdeckt, voll und ganz ausschöpfen“ (Fricsay). Also darf's ein bißchen Ödipus sein, motherfucker, Hamlet auch ein klitzebißchen homoerotisch? Racheschwäche aus Impotenz, siehe Ophelia? Steppende Leichtmatrosen senken sich auf die Bühne, der Geist qualmt aus allen Ritzen. Überhaupt: der Bühnennebel. Wabert immer und überall. Kerzen rucken in die Szene, ein Grab senkt sich ab, die gotischen Pfeiler heben sich in den Himmel: Wie bei der Ärzteschaft muß neue (Bühnen)Technik genutzt werden. Weil aber Selbstironie Fricsays Sache nicht ist, bleibt bizarre Beeindruckung. Show. Dazu paßt die musikalische Untermalung (Uli Harmssen), abwechselnd ein therapeutisch erprobter sphärischer Klangteppich und kitschig dramatisierende „Filmmusik“.

Vielleicht ist Fricsays postmodernes Theater der Zerstreuung ja so aktuell wie der Neue Sozialisationstypus, der eitle, allein wichtige, der SchauspielerInnen am Theater sieht, weil „man dort alles erleiden darf und so sein Karma abträgt“ (so der gen Osten geneigte Regisseur). Das Volk darf zusehen und bekommt demnächst auch eine Fernbedienung in die Hand, zum Theater-Zapping und -Zipping.

Shakespeare hatte sein Volk unterhalten wollen, farbig, opulent, in einem Fest. (Von Gesetz wegen durfte der Hamlet damals übrigens nur maximal 2 1/2 Stunden dauern!) Heute noch eröffne er, so Fricsay, ein gewaltiges Feld für alle möglichen Abenteuer. „Das heißt nicht, daß seine Geschichten nicht genau festgelegt wären, aber wer sich allein auf diese Festlegungen zurückzieht, hat noch einen weiten Weg vor sich.“ Eine programmatische Äußerung. Mit einer zwingenden Logik: Fricsay liebt die Abkürzung. Applaus für die Schauspieler, Buh-Rufe für Fricsay. Burkhard Straßmann