Und trinkt und schreibt und trinkt

■ Das Fuselvolksstück »Die Reise nach Petuschki« von Wenedikt Jerofejew im Zan-Pollo-Theater

Als Die Reise nach Petuschki vor einiger Zeit — wahnsinnigerweise in der Zeitschrift 'Nüchternheit und Kultur‘ — ihre sowjetische Erstveröffentlichung erlebte, hatte sie ihrem Autor Wenedikt Jerofejew in Moskau längst schon die Unsterblichkeit gesichert. Fast zwanzig Jahre lang hat sein »Poem« Samisdat-Karriere gemacht, wurde es abgeschrieben, weitergegeben, vorgelesen und wieder abgeschrieben. Die Reise nach Petuschki ist eine spirituelle Offenbarung, ein Manifest des transzendentalen Alkoholismus, eine Hymne an eine Droge, der kaum jemand außerhalb Rußlands auf diese Art huldigen würde. Als Jerofejew, der sein erstes Romanmanuskript zusammen mit zwei Flaschen Wermut im Suff in einem Moskauer Vorortzug verlor, im Mai dieses Jahres starb, schrieb ihm die Lyrikerin Bella Achmadulina in der 'Literaturnaja gaseta‘ einen flammenden Nachruf. Der ist im Programmheft zur Inszenierung des Zan-Pollo-Theaters nachzulesen, das diesen neuesten russischen Klassiker jetzt — in einer Bühnenfassung von Dieter Dolch — auf die Bretter gebracht hat.

Der Versuch, einen sich ununterbrochen steigernden Vollrausch, ein solch ausgiebiges Delirium tremens allen Ernstes zu spielen, grenzte an Blasphemie. Die Reise nach Petuschki bräuchte eigentlich Schauspieler, die in der Lage wären, auch nach zweieinhalb Flaschen Wodka noch einigermaßen gerade auf der Bühne zu stehen. Da es diese Schauspieler in Deutschland nicht gibt, tun die Zan-Pollo-Leute (unter der Regie von Peter Schöttle) das Gegenteil und feiern eine Orgie der Nüchternheit. Es wird Wasser getrunken, was das Zeug hält, und der Rausch wird nicht markiert, sondern gebrochen — er findet vor allem im Text statt, im Spielen wird er höchstens angedeutet: man gibt sich dezent beschwipst.

Von der Fähigkeit, auf Unangebrachtes zu verzichten, lebt auch das Bühnenbild von Ursula Scheib, ein gelber Raum, in dem durch das Verschieben einiger Metallelemente die verschiedenen Orte ineinander verschwimmen: eine Moskauer Straße, ein Bahnhofsrestaurant, eine Gemeinschaftswohnung. Und vor allem und immer wieder der Vorortzug, in den sich Wenja, Selbstbildnis des Autors, volltrunken und mit einem Koffer voll flüssigem Proviant setzt, um von Moskau nach Petuschki zu fahren, wo »sein Mädchen« wohnt, »diese rothaarige Schlunze«, und von wo aus es nicht mehr weit zu seinem dreijährigen Sohn ist, der schon den Buchstaben Q kennt. Er wird auch diesmal nicht ankommen, sowenig, wie er es je geschafft hat, in Moskau zum Kreml zu gelangen, denn es gibt viele Orte, wohin man gehen kann, aber nur einen Ort, an dem man ankommt: den Kursker Bahnhof in Moskau. Nach Petuschki aber, nach Petuschki kommt überhaupt keiner.

Schon auf den ersten Kilometern seiner sinnlosen Fahrt verläßt ihn sein Schutzengel. Und nach und nach holt jeder Mitreisende sein Glas aus der Tasche, große, klare Wassergläser, Wenja öffnet seinen Koffer, und jeder trinkt, so viel zu haben ist. Denn: Alle aufrechten Menschen Rußlands haben gesoffen, aus Verzweiflung über die Not ihres Volkes. »Der Sozialdemokrat schreibt und trinkt und trinkt und schreibt. Aber der Bauer liest nicht und trinkt, er trinkt, ohne zu lesen. Darauf steht Uspenskij auf und erhängt sich, und Pomjalowskij legt sich in der Kneipe unter den Tresen und krepiert, und Garschin steht auf und stürzt sich im Rausch über das Geländer...«

Sie wollen sich Geschichten über die Liebe erzählen, »wie bei Turgenjew«. Es kommen aber ganz andere Geschichten dabei heraus, von wegen Turgenjew, und je trauriger sie werden, desto lauter wird gelacht. Die Revolution wird nachgespielt, der Präsident erläßt ein Dekret nach dem anderen, aber dann steht er vom Präsidentenstuhl auf, und der bleibt leer, weil sich niemand findet, dem man in drei Tagen nicht die versoffene Fresse einschlagen könnte. Ein Mitfahrender verzehrt eine Wurst »vom Typ ‘Selber essen macht fett‚«, es gibt mehr als drei Wodkasorten, und es werden Cocktails gemixt, die so rar gewordene Zutaten enthalten wie Haarshampoo, Antifußschweißpuder, Shiguli-Bier und Rasierwasser »Fichtennadel«. Das waren goldene Zeiten!

Das Zan-Pollo-Theater spielt Die Reise nach Petuschki weit fort von der Wirklichkeit, aus der der Text kommt. Aber es verfehlt ihn nicht. Die Aufführung spielt schon in dem Jenseits, in das sich das Seelchen Wenja Flasche für Flasche hinübernuckelt, im WahrenGutenSchönenReinen, wie es sich nur erträumt, wer mit dem Kopf in der Kotze liegt.

Das Premierenpublikum lacht still in sich hinein, gluckst, lacht manchmal laut, und so ist das Ganze außer mit Musik auch noch mit einer Art elysischem Gelächter unterlegt. Wir haben unser Vergnügen. Daß es gedämpft bleibt, liegt eben doch daran, daß unsere Wirklichkeit nicht die ist, in der Die Reise nach Petuschki so berühmt wurde. Denn als pastellfarbene Groteske ist das Stück zwar schon sehr schön. Aber das komischste, das eigentlich wirklich Saukomische daran ist, daß es auch noch zum Heulen ist. Anselm Bühling

Die Reise nach Petuschki . Regie: Peter Schöttle; Bühne: Ursula Scheib; Darsteller: Rainer Brinkmann, Friederike Lüers, Pjotr Papierz, Bernd Raucamp, Anke Rupp u.a. Im Zan-Pollo-Theater, 19.-23.12. und 25.-31.12. um 20 Uhr, Rheinstr. 45 in Berlin 41. Tel.: 8522002