Hänsel und Gretel im Weltall

■ Rekordbeteiligung bei den ersten gesamtdeutschen Eiskunstlaufmeisterschaften seit 47 Jahren: 222 AthletInnen schwangen sich auf die Kufen, doch besser geschliffen hatten diesmal und wider allen Erwartungen die Westfraktion

Wedding. Das Ereignis ist eine Parade der Oberbekleidung, der wärmenden Stoffe für die kühle Zeit. Die ehrgeizigen Mütter bewegen sich in totem Tier, die Herren in künstlichem Thermo, die Aktiven in buntem Sponsoring-Wear. Der Gang oberhalb der Ehrentribüne im Weddinger Erika-Heß-Stadion wird für fünf deutschmeisterliche Tage zum Laufsteg: Winter 1990/91. Fast jeder kennt hier jeden, die Kufenfamilie bleibt unter sich, das Publikum drängt sich nicht gerade.

Dabei wurde die erste gesamtdeutsche Eiskunstlaufmeisterschaft seit 1944 mit Spannung erwartet, aus den Kaderschmieden der Ex-DDR- Kufenkunst, Chemnitz und Ost-Berlin, waren international dekorierte KönnerInnen angesagt. Insgesamt wurden 222 TeilnehmerInnen angemeldet — so viele wie nie zuvor — für die Ausscheidungen bei den Junioren, dem Nachwuchs und in der Meisterklasse. Die ersten Titel der Meisterklasse wurden am Freitag abend im Ruck-zuck-Verfahren vergeben. Im Eistanz gingen lediglich vier Paare an den Start, allesamt aus Wessiland, der ehemaligen DDR war diese Disziplin jahrelang nicht förderungswürdig, da erst seit 1976 im Olympiaprogramm. So siegten erwartungsgemäß die Titelverteidiger Saskia Stähler und Sven Authorsen. Ihre Kür, Hänsel und Gretel im Weltall mit Angsteinlage und schließlichem Sieg über die unsichtbare Gefahr, war nicht ganz so fad wie das traditionelle Paargeschwofe der Dritt- und Viertplazierten. Auf Platz 2 landete Hendryk Schamberger mit neuer Partnerin, der US-Amerikanerin Jennifer Goolsbee. Beide versuchen es erst seit vier Monaten miteinander, und doch liefen sie die beste Kür, er mit herrrischem Kopfzucken, sie weiblich-lasziv. Da jubelte das Publikum, da sind die Geschlechterrollen noch in Ordnung, und komplizierte Sprünge muß man auch nicht zählen.

Ähnlich flott ging am gleichen Abend die Paarkonkurrenz über die Eisfläche. Wenn ich einmal reich wär hieß die Kürmusik der Chemnitzer FavoritInnen Mandy Wötzel und Axel Rauschenbach und brachte ihnen prompt die Goldmedaille ein. Doch das Chemnitzer Publikum — sie nahmen mehr als die halbe Tribüne ein — war zufrieden, ihr zweites Angebot, Ines Müller/Ingo Steuer, belegte auch noch Platz vier. Die BRD-Vorjahressieger Anuschka Gläser/Stefan Pfrengle mußten sich mit Bronze bescheiden, die Ostberliner Peggy Schwarz/Alexander König übertrumpften sie lässig und landeten bei Silber. Alle vier Paare haben ihr Ticket für die EM Ende Januar in Sofia in der Tasche. Von dort aus kommen im März nur die drei Besten mit zur WM nach München.

Ein bißchen mehr Gedränge gab es am Sonnabend nachmittag, gleich 13 Jungs mühten sich um den Sprung aufs Treppchen. In der Sparte Outfit blieben sie zunächst einmal Verlierer allesamt. Geschmack in zeitgemäßer Kürkleidung bewies keiner, ein bißchen Strass glitzerte allenthalben, mal 'ne Schärpe aus Faschingsseide oder dezent im üblichen schwarzweiß. Spannend wurde es dann doch, BRD-Star Daniel Weiss ging in die Offensive und wollte es den Favoriten, Ost-Meister Ronny Winkler und dem Berliner Mirko Eichhorn, zeigen. Schon im Originalprogramm mimte er den Meister und kokettierte mit den PreisrichterInnen, unter ihnen der strenge Jan Hoffmann, Chemnitzer Weltmeister von 1974 und 1980. In der Kür legte Weiss dann noch eins drauf, zeigte als tanzender Torero, daß Eiskunstlauf mehr sein kann als nur den Sprüngen hinterherzulaufen. Das machte Eindruck auf Winkler, sichtlich eingeschüchtert blieb er selber farblos. Kaum war der letzte Ton der Kürmusik verklungen, schüttelte sein Boß, Trainer-As Jutta Müller, an den Banden resigniert den Kopf: »Nicht geschafft.« Doch es sollte für Winkler noch arger kommen: Als Letzter lief Mirko Eichhorn im Wettbewerb und hatte nichts zu verlieren. Mit dem Drive des unbelasteten schaffte er vier Dreifachsprünge, lief damit die schwierigste Kür und erntete Standing ovations, Silber inclusive. Auch bei den Damen gab es eine Überraschung. Denn Favoritin und Jutta- Müller-Schülerin Evelyn Großmann aus Chemnitz lieferte nur eine enttäuschende Kür — Bronze. Die Goldmedaille ging an die 22jährige Dortmunderin Marina Kielmann, die mit fünf Dreifachsprüngen und hervorragenden Sprungkombinationen alles auf eine Karte setzte. Titelverteidigerin Patricia Neske (Düsseldorf) ersprang mit drei Dreifachsprüngen Silber. Insgesamt ein unerwarteter Westerfolg, denn niemand hatte wirklich mit einem Sturz der Müller-Favoriten gerechnet. Elmar Kraushaar