Bürokratisch verwaltete Ausweglosigkeit

■ Menottis Flüchtlingsoper „Der Konsul“ in Wuppertal

Für einen italienischen Jungkomponisten in Amerika war das Unternehmen gewagt — auch wenn er sich seit gut zwei Jahren auf Empfehlung keines Geringeren als Arturo Toscanini in den Vereinigten Staaten aufhielt. Eine kurze Zeitungsnotiz über eine junge Frau und ihre tragische endende Konfrontation mit Behörden und Bürokratie auf der vor New York gelegenen Flüchtlingsinsel Ellis Island hatte ihn 1948 zum Libretto einer Oper mit dem Titel „Der Konsul“ inspiriert. 1949 wurde das Textbuch mit dem begehrten Pulitzer-Preis ausgezeichnet, die Oper ein Jahr später uraufgeführt. Das musikalische Drama in drei Akten fand trotz seines engagierten Themas und deutlicher Anspielungen auf die bisweilen massiv ablehnende Haltung der USA gegenüber hilfesuchenden Emigranten aus Nazideutschland begeisterte Aufnahme, lief acht Monate lang ununterbrochen am Broadway und trat von dort aus seinen Siegeszug um die Welt an. Die Wuppertaler Bühnen präsentieren die zeitgenössische Oper jetzt in einer neuen Inszenierung.

Gian Carlo Menotti, 1911 im norditalienischen Cadegliano geboren und heute in den USA lebend, hatte bereits im Alter von sechs Jahren zu komponieren begonnen, entwickelte aber nie den Ehrgeiz, zur musikalischen Avantgarde gehören zu wollen. In seiner Musiksprache eher der harmonischen Tradition der italienischen Oper um die Jahrhundertwende verhaftet, sehe er seine künstlerische Aufgabe vor allem in der Vermittlung aktueller Botschaften, erklärte der Komponist und Librettist einem italienischen Journalisten.

Ort der Handlung sei „irgendwo in Europa“, die dargestellte Zeit die Gegenwart, verkündet wohl deshalb auch eine große Leuchtschrift auf dem Vorhang des Wuppertaler Opernhauses schon während des kurzen Vorspiels. Entsprechend variabel in ihren Mögglichkeiten hat der Schweizer Regisseur Georges Delnon auch die Charaktere angelegt. Seine Akteure verkörpern Typen, deren eigentlich so individelles Schicksal vor dem Hintergrund der bürokratisch verwalteten Ausweglosigkeit zur Massenware wird. An diesem Widerspruch scheitert schließlich auch die junge Protagonistin der Oper, Magda Sorel. Als Frau eines verfolgten und in den Untergrund eines diktatorisch regierten Landes abgetauchten Widerstands kämpfers will sie ihrem Mann ins Nachbarland folgen, sobald das Visum für sie, ihr Kind und ihre nMutter genehmigt ist. Als der Antrag von einer abgebrühten Sekretärin immer wieder abgelehnt, sie mit immer neuen Formularen vertröstet und von der Geheimpolizei immer massiver bedroht wird, erstickt im Papierkrieg schließlich die Menschlichkeit. Das Kind der Sorels stirbt an Entkräftung, der Frau bleibt nur der Griff zum Gashahn, damit ihr Mann nach ihrem Tod allein die Flucht in die rettende Freiheit wagen soll. Selbst die für einen Moment aufgekommene Solidarität der im Konsulat Entrechteten, die mit dem verzweifelten Aufschrei: „Müssen wir sterben, weil wir viel zu viele sind?“ die ungerührte Vorzimmerfrau des selbst nie in Erscheinung tretenden Konsuls bedrängen, stellt sich schnell als Trugbild dar. Ein ebenfalls auf sein Visum wartender Zauberkünstler führt die Wartenden als machtlose Marionette vor, die nicht einmal mehr die Kraft aufbringen können, sich gegen die ihnen aufgezwungene Ordnung aufzulehnen.

Musikalisch hatten viele Kritiker Menottis Oper bestenfalls den Wert von Illustrations-, Unterhaltungs- oder Filmmusik zugestehen wollen. Und tatsächlich läßt die Besetzung mit kleinem Orchester und Klavier diesen Vergleich zu. Vor allem Mildred Tyree in der Rolle der Magda Sorel, Marianne Dorka als deren Mutter und Lynne Wickende als Sekretärin vermögen trotzdem, Inhalt und Botschaft der Oper zu vermitteln.

Eine schlicht ausgestattete Bühne, auf der bisweilen jegliche Dekorationselemente fehlen, und die Zurücknahme aller effekthascherischen Einfälle, kumulieren am Ende in der finalen Sterbeszene der Magda Sorel. Über den todbringenden Gasofen gebeugt, erlebt sie ihre delirischen Visionen nicht optisch sondern rein akkustisch. Noch einmal trifft hier das Schicksal der eigenen Familie auf die unmenschliche Härte des bürokratischen Systems. Der Tod aus Verzweiflung, der schließlich nicht einmal mehr den Mann retten kann, bleibt ein singuläres Ereignis und steht doch zugleich für den Tod tausender und abertausender politischer Flüchtlinge — bis heute. Stefan Koldehoff