Albanischer Staat von Feinden umgeben

Der Archipel Albanien verschlang viele Menschen/ Für die Kommunisten waren oftmals der Sozialismus und die Nation bedroht  ■ Von Erhard Stölting

Früher waren die offiziellen Signale immer eindeutig stalinistisch. Seit Herbst 1989 waren sie erstmals zweideutig. Sie verlangten zugleich mehr „Initiative und Kritik“ und mehr „Wachsamkeit“. Erstmals wurde in dem Roman Messer von Neshat Tozaj auch die Geheimpolizei „Sigurimi“ öffentlich thematisiert: Hinter den zerstochenen Reifen ausländischer Autos vermuten die Leute der Sigurimi zunächst politische Motive. Als sich die Täterin jedoch als unpolitische Psychopathin herausstellt, rekonstruieren sie ein politisches Komplott. Jeder, der irgend etwas mit dem Messer zu tun hatte, gilt dem Geheimdienst als Missetäter. Diese paranoide Konstruktion ist aus den schlimmsten Zeiten des stalinistischen Terrors vertraut. Die Täter vernichten ihre Opfer, um selbst Karriere zu machen. Positiver Held ist allerdings noch die Partei; ihr gelingt es, die finsteren Machenschaften ihres „bewaffneten Arms“ zu entlarven.

Erstmals machte die albanische Regierung im Frühjahr 1990 Zahlenangaben über ihre politischen Häftlinge. Innenminister Stefani bezifferte sie auf 3.850 und trat damit ausländischen Schätzungen entgegen, die von 20.000 bis 40.000 oder mehr ausgegangen waren. Vorwürfen, daß die griechische Minderheit in Südalbanien verfolgt werde, entgegnete er, daß nur 35 Griechen in Haft seien und keiner von ihnen wegen schwerer politischer Vergehen. Sogar zur Frage der Menschenrechtsverletzungen nahm die albanische Regierung erstmals Stellung: Es gebe keine. Früher waren schon derartige Fragen imperialistische Einmischung. Auch die von Gorbatschow initiierten Entwicklungen galten als reine Konterrevolution, die bestätigten, was Staatsgründer Enver Hoxha längst vorhergesehen hatte. Nun hat die Flutwelle auch das kommunistische Utopia an der Adria erreicht. Seit dem Tode Enver Hoxhas 1985 hatte es zwar einige vorsichtige Änderungen gegeben. Zu einigen Ländern, unter anderem zu Italien, zur Bundesrepublik und zu Griechenland, wurden die Beziehungen verbessert. Es gingen Gerüchte über Machtkämpfe zwischen „Konservativen“ hinter Enver Hoxhas Witwe Nexhmije Hoxha und „Reformern“ hinter Parteichef Ramiz Alia um. Aber auch weiterhin wurde das Land vor äußeren Einflüssen beschützt. Nach offizieller Lesart blieb allein Albanien auf dem „richtigen kommunistischen Weg“. Die Isolation wurde bis ins private Leben repressiv abgesichert.

Sozialismus und Nation

Ganz allgemein sind es natürlich die Gegner des Systems und alle, die vom Ausland angesteckt wurden, die ins Visier der allgegenwärtigen Sigurimi gerieten. Die Bedrohung des Sozialismus und der albanischen Nation erschienen als dasselbe. Dieses Gefühl hatte auch historische Gründe. Seine Existenz hatte das Land gegen Jugoslawien, Griechenland und Italien durchsetzen müssen. Es war den Albanern nicht einmal gelungen, ihre Siedlungsgebiete staatlich zu einen. Die griechischen Nationalisten beanspruchten weiterhin „Nord-Epiros“, die südliche Hälfte Albaniens, in dem eine größere griechische Minorität lebt. Albanien beziehungsweise seine Sigurimi hatte das Motiv, auch gegen jugoslawische und griechische Spione vorzugehen.

Die Geschichte schuf immer neue Kategorien von Feinden. Kaum hatten die Partisanen im November 1944 das Land von den Deutschen befreit, begannen revolutionäre Massenverhaftungen und Erschießungen. Sie trafen auch die Kämpfer der bürgerlichen „Nationalen Front“ (Balli Kombetär). Der Vorwurf der Konterrevolution hatte mit ihnen eine Adresse. 1948 begann der Kampf gegen die titoistischen Konterrevolutionäre und Vaterlandsverräter. Enver Hoxha ergriff die ganze Macht und ließ seinen alten Kampfgefährten Koci Xoxe hinrichten und das ganze Land von vermuteten und echten Parteigängern Jugoslawiens säubern. Seit 1954 regierte das Duo Enver Hoxha, als Parteiführer, und Mehmet Shehu, der als Innenminister die Säuberung von „Titoisten“ organisiert hatte, als Ministerpräsident. Bis 1961, als der Bruch mit Moskau endgültig wurde, rollte fast jährlich eine neue Säuberungswelle durchs Land. Hinter dem Bruch mit Chruschtschow stand teilweise wiederum eine nationale Obsession: die Angst, von Moskau für eine Annäherung an Jugoslawien oder Griechenland verschachert zu werden.

Als Teil der albanischen „Kulturrevolution“ wurde 1967 die Religion überhaupt verboten. Alle Kirchen und Moscheen wurden geschlossen, „religiöse Propaganda“ zu einem Verbrechen gegen den Staat. Schon der Besitz eines Korans oder einer Bibel war Grund für lange Haftstrafen. Als 1977 in China die „Viererbande“ gestürzt wurde, brach Albanien auch mit China, wieder rollte eine Welle der Repression durchs Land. 1981/82 kam es zur letzten großen Säuberung. Nun traf es Mehmet Shehu und seine „konterrevolutionäre Clique“. Wer immer zu dieser Clique gerechnet werden konnte wurde Gegenstand der Repression. Das ganze Ausmaß der Repression jedoch — die Schätzungen variieren von einigen Zehntausenden zu einigen hundertausend Toten — wird sich erst ermessen lassen, wenn die Zeugen offen sprechen können und sich die Archive öffnen.