Die Krümmung des Realen

■ Das neugegründete Institut zur Wiederaufbereitung von Altfotos kämpft gegen die unsachgemäße und umweltgefährdende Lagerung von Milliarden Lichtbildern in Privatwohnungen

Mit all dem, was in gut 150 Jahren durch die Kameras gegangen und unter den Vergrößerungsgeräten gewachsen ist, ließe sich die Erdoberfläche mehrfach bedecken. Wir waten in Fotografien. Diesem Problem, das in unseren Schreibtischen täglich anwuchert, bietet jetzt ein Institut die Stirn.

Von Christel Ehlert-Weber

Die Situation ist jedem frei- oder unfreischaffenden Schreibtischarbeiter bekannt: die Produktion steht plötzlich still, es hakt im Text, die Rechnung klemmt zwischen den Formeln, kurzum, es geht nicht weiter. Was tun, wenn die Arbeitsplatte endgültig aufgeräumt, der Computerbildschirm aus lauter Zeittotschlagerei wiederholt geputzt ist, die Fingernägel wohlmanikürt sind, während der Kopf nach dem Anschluß, nach dem »Wie geht es weiter?« sucht.

Auf Gedankensuche öffnet man zerstreut eine Schreibtischschublade. Ach ja, da sind ja die Fotos. Ch. und F., wirklich ein hübsches Paar auf diesem Fasching vor drei Jahren. Und das da, dieses schiefe Rohr und sonst gar nichts? Genau, damals, als ich nach Berlin kam, zeigte mir T. das Gelände, auf dem er seinen ersten Film gedreht hatte: das Reichsbahngelände Gleisdreieck mit diesen verfallenen Gebäuden und dem hohen, aus der Senkrechten geratenen Schornstein, der ganz oben ein falsches Loch hat. Und ich hatte meine neue Sofortbildkamera und wollte damit Fotos machen, die ... genau: die Sehgewohnheiten verändern. Und deshalb ist nur der Schornstein und sonst fast gar nichts auf dem Bild.

Und das da, dieser komische bunte Kaktus? Richtig, das war zu G.s Geburtstag. Er hatte das biblische Alter von 41 zu feiern, und wie zu einem Kindergeburtstag schenkten ihm seine Eltern eine Ananas. Die stand in einem ausrangierten Pappeisbecher. In der Ananas steckten eine Menge Drähte, mit Zehn- und Zwanzigmarkscheinen umwickelt. Und auf die Drahtenden waren Gummibärchen gespießt. Alle tot. Die Ananas war mindestens 1.000 DM schwer. G.s Mutter konnte sich natürlich nicht den Hinweis verkneifen, was für eine tolle Idee das war und wieviel Arbeit das Rollen und Festbinden der Geldscheine gemacht hatte. G. seinerseits war noch vier Tage später vom vielen Geldglattstreichen genervt.

Genaugenommen ist solcherlei ein Fall für oder in den Müll. Fotos, die nicht mehr gebraucht werden, die ihre Aufgabe schon im Moment des Aufgenommenwerdens erfüllt haben, aber aus lauter Nachlässigkeit aufgehoben werden — sie sind nun mal da. Mithin ein Vergehen am Neuen, das darauf wartet, in der blockierten Schreibtischschublade zwischengelagert zu werden. Rohstoff für den Altpapiercontanier.

Doch halt, so geht's nicht. Fotos sind heute fast ausschließlich auf Plastikpapier abgezogen, enthalten Silberpartikel und diverse bedrohliche Chemikalien, Weltbelästiger. Ein Fall für das gerade eröffnete Institut zur Wiederaufbereitung von Altfotos.

Wider den Knipserwahn

»Addiert man diese soundso viel Milliarden Quadratzentimeter Fotopapier und breitet sie, ordentlich nebeneinandergelegt, aus, so ließe sich die Erdoberfläche mit all dem, was in gut 150 Jahren durch die Kameras gegangen und unter den Vergrößerungsgeräten gewachsen ist ... die Erdoberfläche ließe sich damit — unvorstellbar — mehrfach bedecken. Wir waten also buchstäblich in Fotografien, vielleicht stehen sie uns auch schon bis zum Hals«, erklärt mir Joachim Schmid, der Gründer und Leiter des Instituts.

Das Institut selbst sieht nicht gerade aus, als könnte es auch nur einige tausend Quadratkilometer Erdoberfläche von der materialisierten Wirklichkeitsverdoppelung entsorgen: eine geräumige Etagenwohnung am Tiergartenrand, klarlackversiegelte Holzfußböden, bilderlos weiße Wände, minimalistische Möblierung — eine Arbeitsplatte, zwei Stühle, nebenan ein Sessel. Im Nebenraum Regale, Vergrößerungsgerät, Staffelei, Lichttisch.

»Sind Fotografien unter dem ökologischen Aspekt wirklich so gefährlich?« will ich wissen. Joachim Schmid lächelt: »Ungefähr halb so gefährlich wie eine Plastiktüte«, antwortet er. »Also Wiederaufbereitung von Altfotos qua Kunst?« — Er nickt.

Schmid, selbst professioneller Fotograf, Ex-Lehrbeauftragter an der HdK, Fachblatt- und Ausstellungskatalogautor, Theoretiker wider den Knipserwahn, kam vor zwei Jahren zu dem Entschluß: »Keine neuen Fotos mehr, bevor die alten nicht aufgebraucht sind.«

Zur Sichtung der Materiallage begab er sich zu Trödlern und Flohmärkten, kaufte ganze Abbildungsnachlässe auf, sortierte und archivierte. Gemäß der bekannten Erfahrung »man kann mehr rein- als rauslesen« zeigte er auf seiner ersten Ausstellung nur die Rückseiten der ausgewählten Volksfotos. Dort gab's dann zu lesen: Wir, Weihnachten 1932; Meine Margarete am Comer See, August 57; Endlich zu dritt: Mutti und Vati und unsere neue Anita, 8.2.49; Gefangene Russen, Rußland 42; unser Nuckchen, 34 PS etc.

Nachdem er die Erfahrung — alle Bilder sind schon in unserem Kopf, bevor sie uns erreichen — derart verifiziert hatte, konzentrierte sich Schmid auf die Vorderansicht und entdeckte Kunst. Unter dem, was der uns vertraute anonyme Mann um die Ecke so zusammengeknipst hatte, fand er auch Bilder, die ihr Entstehen nur dem berühmten Knöpfchendruck von August Sander, Man Ray, Hannah Höch, Gisèle Freund oder Helmut Newton verdankt haben konnten. Diese Entdeckung teilte er einigen Galerien und Verlagen mit, doch die winkten ab.

Die Frage nach dem richtigen Bild

Da die Wahrheit ans Licht will, gründete Schmid zusammen mit Adib Fricke die Edition Fricke&Schmid und legte die Meisterwerke der Fotokunst vor. Eine auf 250 Exemplare limitierte Auflage zeigt mit buchgestalterischem Aufwand zwanzig Reproduktionen aus der Sammlung Schmid. Zu sehen ist unter anderem ein mit Brille und Faschingshütchen ausstaffierter Hund der Marke Weimeraner, betitelt Man Ray with hat and glasses, fotografiert von keinem Geringeren als William Wegmann, 1979. Oder eine von René Magritte 1937 hergestellte und mit Georgette betitelte Aufnahme, die eine Dreifachbelichtung präsentiert: Nachthimmel, Frau am Strand mit Fotoapparat, Frau am Strand mit Fotoapparat.

Das Werk wurde mit 250 DM auf den Markt gebracht. Galerien im In- und Ausland stellten die Originale der Schmidschen Sammlung aus. Und es meldete sich auch ein Schweizer Anwalt, als Copyright-Vertreter der Magritte-Erben, mit finanziellen Forderungen. Da weder der Anwalt noch Schmid das Negativ, also die eigentliche Grundlage des Originals, vorlegen konnten, wurde ein Kunstsachverständiger eingeschaltet, der »mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststellte, daß...«. Die Sache verlief im Sande, und Schmid erhöhte nachfragegerecht den Preis für die Meisterwerke der Fotokunst auf 1.000 DM.

»Doch darum geht es gar nicht«, versichert mir der Sammler. »Die Betriebs- und Marktmechanismen sind nur ein Hilfsmittel, um klarzumachen, daß August Sander, jener berühmte Fotograf, der einen repräsentativen Querschnitt der deutschen Bevölkerung fotografieren wollte, gar nicht selber mit der Kamera hätte herumrennen müssen. Er hätte sich seine Bilder auch aus Nachbars Zigarrenkiste nehmen können.«

Damit verwischt sich die Grenze zwischen dem Amateurfotografen und professioneller Fotografie. Wenn alle alles fotografieren können und dies auch tun, stellt sich die Frage, wer denn eigentlich das richtige Bild gemacht hat. Eine Frage, mit der sich Schmid seit der Gründung seines Instituts zur Wiederaufarbeitung von Altfotos auf das heftigste auseinandersetzen muß.

»Die meisten Fotos meiner Sammlung sind aus den dreißiger, vierziger und fünfziger Jahren. Also habe ich mich gefragt, wie ich an neuere Fotos kommen könnte.« Schmid setzte auf das modische öffentliche Bewußtsein, verfaßte einen Text, in dem er auf die unsachgemäße und also umweltgefährdende Lagerung von Milliarden von Altfotos in Privatwohnungen und Betrieben hinwies, bot die Wiederaufbereitung an — in hoffnungslosen Fällen auch die professionelle Entsorgung — und garantierte eine kostenlose Teilnahmemöglichkeit am Altfotorecycling. Er klebte den Öko-Engel unter das Oeuvre, ließ es drucken und verschickte es an knapp hundert Redaktionen.

Wer macht hier eigentlich Profit?

Der Rücklauf war prächtig. Das 'Spiegel‘-Fotoarchiv bot wöchentlich 1.000 Fotos an, zog das Angebot jedoch wieder zurück, als es von der künstlerischen Weiterverarbeitung hörte. Immerhin ist man dort für das Problem inzwischen so weit sensibilisiert, daß man qua Anweisung auf dem Dienstwege den 'Spiegel‘-Fotos zukünftig eine Behandlung als Sondermüll zukommen lassen will. Welch schöne friedliche Nutzungsperspektive für die Salzstöcke von Gorleben.

Bei einem SFB-Studiogespräch mit dem Institutsgründer dauerte es kaum eine Minute, bis der erste Hörer anrief: Als Inhaber einer Fotoagentur sprach er von unlauterer Konkurrenz und Verletzung der Urheberrechte, sorgte sich aber offenbar weniger um die Kunst als ums Geld. Prompt meldete sich am nächsten Tag die Fotoinnung mit demselben Anliegen im Schmidschen Institut. Das Umweltinteresse ist groß, solange es um die endgültige Vernichtung geht. Beim Stichwort Recycling werden die Besitzstandswahrer hellhörig.

Derweilen die Sachverständigen also über das Urheberrechtsrecycling grübeln, bearbeitet Schmid die eingehenden Fotos. Säuberlich werden die Bilder in Themengruppen auf beigefarbene Kartons montiert: Ausblick aus dem fahrenden Auto; Angehöriger am Strand; Heimatstriptease; Weihnachten 33-39; Menschen lehnen aus dem Fenster; Sport am Strand; die Kamera ging von alleine los; immer wieder neue Gäste mit Wirt vor der Gaststätte »Hof Synderhaus«; Mutti neben der Kuh vor den Alpen... Über Jahrzehnte sind es immer dieselben Motive: Zeugnisse jener zeitlosen Ästhetik des Draufhaltens, jenes ungebrochenen Willens, der die Hoffnung nicht aufgibt, ihm könnte eines Tages die endgültige 1:1-Abbildung der Welt, wie sie wirklich ist, gelingen.

Wo das Institutsprojekt genau hingehen soll, weiß Joachim Schmid noch nicht. Es hängt von dem eingehenden Material ab. Geplant ist eine Ausstellung im nächsten Jahr beim Seltzerschen »Bilderdienst«. Auf jeden Fall verspricht er für den Fall, daß ihn die Bilderflut ertränken sollte, das Zuviel natürlich ökologisch verträglich entsorgen zu lassen.

Die Vertriplung der Wirklichkeit

Ich überlasse ihm das Bild mit Schornstein vom Gleisdreieck und das mit der Geburtstagsananas. Sie werden vielleicht in einem anderen Erzählungszusammenhang wieder auftauchen. Ich schenke ihm auch das Bild mit dem Barhocker, auf dem ein Schuhkarton steht. Dessen wahre Geschichte werden wir vielleicht demnächst erfahren. Seine wirkliche habe ich längst vergesen.

Zum Schluß will ich wissen, ob er selbst einmal wieder ans Fotografieren gehen wird. Im Moment nicht. Da malt er in fotorealistischem Stil großrasterige Vergrößerungen von Zeitungsfotos mit ihren irrwitzigen Bildunterschriften auf die Leinwand. Bild: zwei große Kakteen. Bildunterschrift: Auf kargem Boden gedeihen Kakteen. Diese Methode der quasi »Vertriplung« des Realen erscheint mir konsequent. Wenn Zeitungen als erste Berichterstatter von der Wirklichkeitsfront diese Wirklichkeit qua Bildwortverdoppelung selber erst herstellen und damit die wahren Inhaber des Copyrights auf Realität sind, dann ist das Abmalen des Abgelichteten vielleicht tatsächlich der einzige Weg, sich des Originals doch noch zu versichern: eine endgültige Krümmung der Geschichtsgeraden nach vorne zurück!

Joachim Schmid zeigt auf die Regale voller Fotos: »Wenn all das und das, was jetzt noch kommt, aufgebraucht ist, können wir wieder übers Fotografieren reden.«

Institut zur Wiederaufarbeitung von Altfotos, c/o Joachim Schmid, Englische Straße 29, Berlin 10, Tel.: 3928349.