Atomfreiheit als Übergangszustand?

■ Im letzten Atomkraftwerk der früheren DDR gehen heute die Lichter aus

Die gute Nachricht zuerst: Vom heutigen Tag an müssen die Betriebsmannschaften der Atomzentrale Greifswald nur noch die sogenannte Nachzerfallswärme in den schrottreifen Meilern an der Ostsee bändigen. Damit hat jenes Programm endgültig aufgehört zu existieren, mit dem realsozialistische Planer in den fünfziger Jahren, Polarregionen bewohnbar machen und Wüstengebiete künstlich bewässern wollten. Zweifellos ein Feiertag für die Atomkraftgegner und -gegnerinnen in Ost und West. Mehr allerdings nicht. Denn während die atomare Kettenreaktion im Innern der Meiler nun sehr allmählich abflaut, wird anderswo längst heftig an der kapitalistischen Variante des sozialistischen Traums von der paradiesischen Energiezukunft weitergewerkelt.

Siemens/KWU, Framatome und Westinghouse überbieten sich seit Monaten mit Stapeln von Blaupausen, die sämtlich nur das eine Versprechen „untersetzen“ sollen: Wir, die westlichen Technologie-Zampanos, verwandeln noch die heruntergekommendste sozialistische Reaktorbauruine in einen Hort atomarer Sicherheit. Wer wollte es ihnen verdenken, den westlichen Reaktorbauern, deren chronische Auftragsmisere nun schon weit über eine Dekade anhält. Begierig wollen sie in der ehemaligen DDR vorexerzieren, was sich im gesamten osteuropäischen Ausland zu einem Jahrhundertgeschäft aufzuschaukeln verspricht. Es geht um den schlichten Nachweis, daß sowjetische Meiler mittels bundesdeutscher, französischer oder US-amerikanischer Technologie ans atomare „Weltniveau“ herangeführt werden können. Druckwasserreaktoren der Greifswald-Baureihe gibt es überall — und fast alle sind marode.

Brauchen die neuen Bundesländer Atomstrom? Die westdeutsche Stromwirtschaft, die sich den östlichen Markt im Sommer mit dem umstrittenen Stromvertrag unter den Nagel riß, findet: Ja. Im ersten Quartal 1991 soll diese Meinung amtlich werden.

Begründet wird die Notwendigkeit ökologisch. Altersschwache Braunkohlekraftwerke müssen geschlachtet und — dem Klima und dem Wald zuliebe — durch Atommeiler ersetzt werden. Die strategische Entscheidung muß schnell fallen, möglichst vor dem nächsten Sommer. Dann nämlich wird der Stromverbrauch in den neuen Ländern einen neuen historischen Tiefststand erreichen. Und die Verbrauchskurve wird nur sehr allmählich wieder nach oben pendeln: Die heute stillgelegten stromintensiven Betriebe werden von weniger stromfressenden Anlagen ersetzt.

Gegenwärtig fließt durch das Netz der früheren DDR 25 Prozent weniger Strom als vor Jahresfrist. Tendenz: weiter abnehmend. Die Atomkraftwerke von Greifswald und Rheinsberg lieferten zu Hochzeiten 10 Prozent des Bedarfs. Brauchen die neuen Länder Atomkraftwerke? Die AKW-GegnerInnen in Ost und West sollten heute die Sektkorken knallen lassen — und ab morgen die Antwort formulieren. Gerd Rosenkranz