Der Kampf der Lobbies

■ Die Koalitionsverhandlungen in Bonn KOMMENTARE

Wer jetzt keine Lobby hat, der kann der Empfehlung von Rilkes Herbstgedicht folgen und auf leeren Alleen einsam wandeln. Denn es wird kälter in Deutschland, dem vereinten. Die Koalitionsverhandlungen in Bonn haben jedenfalls weniger den Charakter einer Regierungsbildung, sondern geraten zur Vorwegnahme des kommenden innenpolitischen Streites. Die Verteilungskämpfe haben begonnen. Sie werden in den nächsten Jahren die Innenpolitik beherrschen, und dabei wird es nicht darum gehen, ob die Länder oder Gemeinden sozialdemokratisch oder christdemokratisch regiert werden. Es wird nicht auf Konzeptionen oder Visionen, nicht auf links oder rechts, konservativ oder modern ankommen, sondern auf Pressionen, Lobbies, Verbände. Es wird darum gehen, wer besser erpressen, besser Alarm schlagen, besser drohen kann. Erstaunlich ist nur, daß die Öffentlichkeit kaum die ungewöhnliche Art der Bildung der ersten gesamtdeutschen Regierung zur Kenntnis nimmt.

Als Kohl noch vor der Wahl andeutete, die neue Regierung werde noch vor Weihnachten vorgestellt, hatte er wohl die klassische Art der Koalitionsverhandlung mit der CDU im Sinne, bei der politische Kompromisse im Schacher um die Ministersessel abgehandelt wurden. Aber inzwischen ist das ja nicht mehr modern und läßt sich noch weniger mit der neuen Zeit vereinbaren. Genscher hatte schon zu sozialliberalen Zeiten den sogenannten Koalitionsvertrag eingeführt, den dann die rot- grünen Koalitionen zu gesamtpolitischen Grundsatzpapieren erweiterten. Nun hat also die künftige Regierung auch schon mit Arbeitsgruppen angefangen. Es fehlt nur, daß Kohl demnächst von Knackpunktkatalogen und der schwarz-gelben Streitkultur redet.

Vignette, Niedrigsteuergebiet Ost, Berlinförderung, verkürzter Gebührentakt, Verteidigungshaushalt — die Koalitionsverhandlungen haben mit einem Lobbyistenauftrieb begonnen. Immerhin sollte man sich fragen, warum Waigels zwölfseitige Streichliste derart direkt in die Öffentlichkeit kommt, bevor die Koalitionspartner wissen, wie sie sich eigentlich einigen können. Daß hier aus Unfähigkeit ein Nachwahlkampf für Lafontaine inszeniert wird, darf man den Routiniers nicht unterstellen. Der Sturm der Betroffenen wird offenbar bewußt entfacht. Und die SPD macht lautstark und bedenkenlos mit: Frau Mathäus-Maier spricht vom „konzeptionslosen Abkassieren“ und protestiert im Namen des ganzen sozialdemokratischen Besteuerungskonzepts. Aber es fragt sich, ob diese sozialdemokratische Mischung von Patentrezept und Protest im Auftrag des Manns auf der Straße Sinn macht. Schließlich geht es ums Abkassieren. Und die Koalitionsparteien haben begonnen, nicht nur die Lobbyisten zu provozieren, sondern sie machen die Machtpolitik, die erfolgreich sein wird: Jetzt schon werden alle potentiellen Zahler gegeneinander ausgespielt. Kohl weiß genau, daß 35 Milliarden sich nicht im Konsens einsparen lassen. Er setzt auf Demagogie und die Chance der Exekutive im Streit ums Geld. Alle politische und soziale Restsolidarität in diesem gespaltenen Land wird jetzt kleingehackt. Klaus Hartung