Marokko: Aufstand im Land der „geheimen Gärten“

Mindestens 100 Tote bei der Niederschlagung der Demonstrationen in Marokko/ Schnellprozesse gegen Gewerkschafter beginnen/ Die demokratische Fassade von König Hassan ist gefallen/ In der kalten Moderne des Monarchen suchen Jugendliche ohne Perspektive die Wärme eines radikalen Islams  ■ Von Oliver Fahrni

Paris (taz) — Das Possessivpronomen ist ein seltsames Fürwort: Oft hat man nachher nicht mehr, was man sich durch seinen Gebrauch zu sichern hoffte. König Hassan II. von Marokko, „Retter, Vereiniger und Kommandeur der Gläubigen“, sagt gerne Sätze wie: „Mein liebes Volk, du bist mein, und ich bin dein.“ Am Wochenende ist ein Teil des Volkes aufgestanden, die Besitzverhältnisse zu klären. Und wie schon 1981 und 1984 haben es Hassans Truppen mit eiserner Faust an seinen Platz gezwungen.

In allen Städten zwischen Tanger und Tarfaya sind die Panzer aufgefahren, die Bidonvilles umzingelt, die Universitäten militärisch besetzt. Hundert erschossene Zivilisten gelten mittlerweile als gewiß, leicht könnten es zweihundert oder mehr sein. In der Medina von Fès lagen am Sonntag auf Karren und hinter Mauern Leichen. Kinder sammelten sackweise die 9-mm-Patronenhülsen der Armee zusammen. Die genaue Zahl der Ermordeten wird man nicht erfahren — viele werden heimlich begraben. Verletzte wurden, ohne ärztliche Hilfe, zum Sterben in Verstecke gelegt, um die Verwandten nicht der Repression auszusetzen. Der Gewerkschafter Mohamed Titla Alaoui soll von Sicherheitskräften entführt worden sein. Das Aktionskomitee zur Befreiung der politischen Gefangenen hat schon über tausend Verhaftungen registriert. Gestern liefen die Prozesse an. Den Arrestierten droht, auch ohne Beweise, das Erschießungskommando oder jedenfalls Folter, jahrzehntelange Kerkerhaft oder ein Konzentrationslager im Süden des Landes. So leicht schleicht man aus Hassans Monarchie nicht ab.

Der König gab Anfang des Jahres die permanenten Menschenrechtsverletzungen gegenüber amnesty international ohne Zögern zu. „Jeder Staatschef hat seinen geheimen Garten“, sagte Hassan und warf die ai- Delegierten aus dem Land.

Über die geheimen Gärten des Königs legen westliche Regierung gerne den „hidjab“ der Diskretion. Hassan gilt als treuer und wertvoller Verbündeter. „Er wird“, schreibt ein französischer Stratege, „als einziger die islamistische Welle stoppen können.“ Marokkos Truppen stehen am Golf auf der Seite der Amerikaner. Hassan empfing Israels Schimon Peres zum offiziellen Staatsbesuch. Und die Golfmonarchen schätzen Marokko als Ort ihrer Zweitresidenzen — der linden Gestade und der Kinderprostitution wegen.

Hassan erleichtert die selektive Wahrnehmung durch ein demokratisches Schattenspiel. Er hält sich Parlament, Gewerkschaften, eine Opposition, selbst eine königstreue KP. Zwischen den Thron und das Volk hat er, einem Puffer gleich, die Regierung gestellt, die er nach Belieben ernennt. Sich selbst hat er durch die Verfassung als Oberhaupt von Gottes Gnaden („Die Person des Königs ist heilig und unverletzlich“) weit entrückt. Per einfachem Dekret kann er alle staatlichen Institutionen, Verfassung inklusive, aufheben.

Entsprechend suchten die Gewerkschaften, die um eine sorgfältige Balance bemüht sind, den Generalstreik vom Freitag friedlich zu halten — Demonstrationen waren keine vorgesehen. „Wir haben alle Vorkehrungen getroffen“, schrieben sie am Sonntag in einem Kommuniqué, „den Streik in einer Atmosphäre von Ruhe, Sicherheit, Disziplin und Verantwortlichkeit abzuhalten.“ Doch die ohnehin schwachen Gewerkschaften konnten nicht mehr zurück, weil ihnen sonst die Basis davongelaufen wäre. Seit Jahren halten sie still. Hassan zwang sie unter Hinweis auf den Sahara-Krieg gegen die Polisario in einen Sozialpakt. Die soziale Explosion suchte er mit kleinen Lohnerhöhungen abzuwenden. Doch Hassans Spielraum wurde immer kleiner: Unter dem Druck des IWF, der kürzlich eine Umschuldung und neuen Kredit gewährte, schwenkte er auf eine harte Austerity-Politik ein. Mehrmals wurden die Preise für Grundnahrungsmittel erhöht. Die Armut im schon ärmsten Maghreb-Land wächst.

Der Aufstand vom Wochenende zeigt, daß Gewerkschaften und legale Opposition längst von einer neuen sozialen Bewegung überrollt sind. Kein Zufall, daß die jugendlichen Demonstranten nicht nur die Symbole der obszön reichen Oberschicht wie Banken und Luxushotels attackiert, sondern auch öffentliche Einrichtungen und Busse zerstört haben, die ihnen nutzen: Sie haben erkannt, daß ihnen der Zutritt zu dieser marokkanischen Gesellschaft versperrt bleiben wird. Drei Viertel der Marokkaner sind jünger als 25. Nur ein geringer Teil, auch der Hochschulabgänger, hat Aussicht auf einen Job und ein menschenwürdiges Dasein. „Wer im Bidonville Mont- Fleuri aufwächst oder hinter Bab- Ftouch“, sagt ein Arzt aus Fès, „kann kein politisches Projekt haben.“ Immer mehr wenden sich von den linken und linksradikalen Bewegungen, die bislang zum Beispiel die Universität von Fès kontrollierten, ab und den radikalen Islamisten zu. Die Moslembrüder versprechen keine Revolution oder Integration in eine marokkanische Gesellschaft der westlichen Konsumwerte, sondern die Rückwendung zu einer Gemeinschaft der Gläubigen. Das Projekt verheißt Wärme in der Kälte der Moderne.