De Maizière: Ende der Verbiegungen

Der letzte DDR-Ministerpräsident hat seine Mission erfüllt  ■ Von Matthias Geis

Berlin (taz) — Die Charakteristik seiner „Regierung des Übergangs“ traf schon seit einiger Zeit auch auf die Person Lothar de Maizière zu: ein Politiker auf Abruf. Mit Hilfe der jüngsten Stasi-Veröffentlichungen wird jetzt nur vollzogen, was sich seit der Herstellung der Einheit bereits angedeutet hatte: Für de Maizière war in Kohls Bonn kein einflußreicher oder wenigstens repräsentativer Platz vorgesehen. Doch die merkliche Bonner Distanz der letzten Wochen gegenüber de Maizière verdeckt die einzigartige Rolle des letzten DDR-Ministerpräsidenten, der sechs Monate lang die administrativen Vorgaben aus dem Kanzleramt seinen desorientierten BürgerInnen als identitätswahrendes Projekt verkaufte.

Für die Bonner Macher war Lothar de Maizière ein Glücksfall. Während die Ministerialbürokratie die Abwicklung der DDR plante, fand de Maizière die passenden Formulierungen, um die Skepsis und Verunsicherung der Bevölkerung abzufedern. Würde und Anstand wurden zu Schlüsselbegriffen. Nicht einmal der Einheitssturzflug nach der Wirtschafts- und Währungsunion konnten de Maizière an seiner Sprachregelung irre machen. Dabei spielte er die ihm zugedachte Rolle gerade nicht im Stil eines PR-Mannes. Die Art seiner nachdenklichen Vorträge, in denen die allgemeinen Unsicherheiten nicht versteckt, sondern im Verantwortungsethos aufgehoben wurden, wirkte auch dann noch authentisch, als sie von der Regierungspraxis de Maizières längst kontrastiert wurden.

Mit seinem Insistieren auf die Interessen der DDR-BürgerInnen im Einheitsprozess war de Maizière auch der vermeintliche Idealpartner für die Sozialdemokraten. In erster Linie durch seine behutsame Überzeugungsarbeit kam die große Koalition in Ost-Berlin zustande. De Maizières Schlüsselargument, nur eine breite Regierungsmehrheit könne gegen Bonn die Interessen der DDR- BürgerInnen wirksam vertreten, überzeugte auch die anfänglichen Gegner einer Regierungsbeteiligung der SPD. Eigenwillige Politik im Dienste der Einheit, von dieser Intention war nicht nur die Koalitionsvereinbarung, sondern auch de Maizières Regierungserklärung beherrscht. Die Einheit „so gut wie möglich, so schnell wie nötig“ war eine Maxime, die alle Beteiligten zufriedenstellte. Doch in dem Maße, in dem das „so gut wie möglich“ vom „so schnell wie nötig“ aufgezehrt wurde, verwandelte sich auch der Politiker de Maizière. Spätestens seit dem Abschluß des ersten Staatsvertrags über die Währungsunion agierte der Regierungschef immer deutlicher als von Bonn instruierter Parteitaktiker. De Maizière ließ schon mal seinen Scharfmacher Krause gegen die eigenen SPD-Kabinettskollegen vom Leder ziehen. Finanzminister Romberg, der hartnäckig die Risiken des Einigungsvertrages für die finanzielle Zukunft der DDR-Länder offenlegte, wurde von de Maizière kurzerhand geschasst.

Dabei hätte gerade die Romberg- Rolle de Maizière gut angestanden. Doch der verpaßte es, die konkreten Sicherungen, die er der DDR-Bevölkerung versprach, in Bonn auch nur ernsthaft anzumahnen. Daß hochfliegende Pläne aus der Koalitionsvereinbarung — etwa die restriktiven Bestimmungen beim Erwerb von Grund und Boden durch Gebietsfremde — nicht zu verwirklichen seien, war schon frühzeitig absehbar. Doch daß de Maizière auch die zentralen Punkte, die existentiellen Selbstverständlichkeiten, die er immer wieder als conditiones sine qua non einforderte, am Ende schlicht verdrängte, ist bis heute schwer nachvollziehbar. Die Sicherung der Eigentumsrechte blieb ebenso auf der Strecke wie die ausreichende Finanzausstattung der Länder. Gegen Ende seiner Amtszeit war de Maizières Balanceakt zwischen wohlklingendem Anspruch und Vertragspraxis nur noch mit schlichten Lügen zu retten: Während er auf einer Pressekonferenz im August die Erfüllung seiner Essentials verkündete, hatte sie Verhandlungsführer Krause schon endgültig begraben.

Zu den interessanten Fragen des Einheitsprozesses gehört, ob de Maizière vom Beginn seiner Amtszeit an als cleverer Taktiker agierte, oder ob ihn erst die Erfahrungen mit den Bonner Verhandlern auf dieses Maß reduzierten. Auf dem Vereinigungsparteitag der CDU jedenfalls stellte sich de Maizière dann ganz in den Dienst seiner Partei. Die nachdenkliche Rhetorik, mit der er noch zu Beginn seiner Amtszeit auch die Verantwortung der CDU für die vierzig realsozialistischen Jahre eingestanden hatte, verdrängte der neue gesamtdeutsche Stellvertreter zugunsten einer platten Apologie. Die Ost- CDU erschien ihm jetzt als Hort des Widerstands. Doch auch die letzte große Verbiegung des Lothar de Maizière hat ihm nichts mehr genutzt. Die korrigierte er gestern, notgedrungen, durch seinen Abgang.