Bildungsnotstand in den neuen Ländern vorprogrammiert
: Tausenden Lehrern droht der blaue Brief

■ In den neuen Bundesländern gibt es zu viele PädagogInnen, findet der Bundesfinanzminister. Über 40.000 droht die Kündigung. Hilfe sollen dabei die Personalbögen leisten, in denen alle LehrerInnen — als Beschäftigte des öffentlichen Dienstes — zu ihrer Stasi- und Parteivergangenheit befragt werden.

VON ULRIKE HELWERTH

Die Hiobsbotschaft ereilte Sylvia U. auf vertraulichem Wege: Auch du stehst auf der Entlassungsliste. Über 70 KollegInnen, so brachte die Oberstufenlehrerin für Mathe und Physik in Erfahrung, hat der Kreisschulrat von Oranienburg (Land Brandenburg) zum Abschuß freigegeben. Wie sie auf diese Liste geraten ist, kann sich Sylvia U.* nicht erklären. Sie war weder in der SED noch in einer Blockpartei, hat keine Karriere im Staatapparat und keine Stasi-Tätigkeit hinter sich. Seit zehn Jahren steht sie im Schuldienst und ist vom Vorruhestandsalter noch gut 20 Jahre entfernt. Bleibt ihr nur die Hoffnung, daß die Liste unter Verschluß vielleicht doch nicht so heiß ist, wie sie in der Gerüchteküche gekocht wird. Schließlich betonte die Bildungsministerin des Landes Brandenburg, Marianne Birthler, erst kürzlich, daß sie nur wohlbegründete Einzelkündigungen durchgehen lassen will.

Zehntausende LehrerInnen in den fünf neuen Bundesländern (FNL) bangen wie Sylvia U. um ihre berufliche Zukunft. Denn der Bundesfinanzminister beklagt, daß es im Osten zu viele Lehrkräfte gibt. Ausgegangen wird von einem durchschnittlichen LehrerInnen-SchülerInnen-Verhältnis von 1:12, in den elf alten Bundesländern liegt der Durchschnittswert bei 1:16,5 (Stand 1988). Eine vom Bund berufene Clearingtelle soll nun den LehrerInnenbedarf für die neuen Bundesländer ermitteln. Die Empfehlung aus Bonn lautet: Orientierung am Stand der BRD von 1980 — einem Zeitpunkt also, an dem die SchülerInnenzahlen noch höher lagen als heute. Die Lehrergewerkschaft GEW wirft der Clearingstelle vor, mit falschen Zahlen zu operieren, indem sie die Altersstruktur und die Geburtenentwicklung in den alten und neuen Ländern einfach gleichsetze und dadurch 485.000 SchülerInnen wegrechne. Außerdem kommt ein großer Teil der Lehrkräfte ab Mitte der 90er Jahre ins Rentenalter, ohne daß für Nachwuchs gesorgt ist. Zusätzlicher Bedarf an PädagogInnen entsteht in den neuen Ländern auch durch die dringend erforderlichen Fortbildungsmaßnahmen, die Freistellungen vom Unterricht notwendig machen. „Der Bildungsnotstand ist bereits vorprogrammiert“, so der Berliner GEW-Vorsitzende Erhard Laube. Folgen die fünf Neuen diesem „bildungspolitischen Abenteuer“ (Laube), müssen sich über 40.000 LehrerInnen demnächst nach einem anderen Job umtun. Allein in Brandenburg droht 6.200 von insgesamt 42.000 Lehrkräften — also fast jeder siebten — der blaue Brief. Bildungsministerin Marianne Birthler versucht das Problem noch herunterzuspielen und spricht von nur 4.500 Entlassungen [siehe Interview]. In Berlin hat Schulsenatorin Heide Pfarr den LehrerInnen des östlichen Stadtteils zunächst den Arbeitsplatz garantiert. Die Berliner GEW fordert aber, daß diese Zusage Eingang in den schwarz-roten Koalitionsvertrag findet.

„Ein wichtiger Grund für außerordentliche Kündigungen ist insbesondere dann gegeben, wenn der Arbeitnehmer 1.) gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen hat; 2.) für das frühere Ministerium für Staatssicherheit/Amt für nationale Sicherheit tätig war und deshalb ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheint“, heißt es im Einigungsvertrag, Kapitel XIX Recht der im öffentlichen Dienst stehenden Personen.

„Hatten Sie eine Funktion in der SED?“

Auf dieser Grundlage hat das Bundesinnenministerium einen Personalfragebogen entworfen, der in verschiedenen Varianten in den FNL inzwischen bereits eingesetzt wurde oder demnächst verteilt wird. Alle Beschäftigten oder NeubewerberInnen für den öffentlichen Dienst, also auch die LehrerInnen, sind verpflichtet, diesen Fragebogen wahrheitsgemäß zu beantworten. Sonst droht die Kündigung. Im Berliner Fragebogen etwa heißt es unter Frage 18: „Ist gegen Sie der Vorwurf oder Verdacht erhoben worden, gegen Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen zu haben?“ Frage 19: „Sind Sie für das frühere Ministerium für Staatssicherheit/für das Amt für nationale Sicherheit oder für eine der Untergliederungen dieser Ämter oder vergleichbare Institutionen tätig gewesen? Falls ja, in welcher Weise/ Funktion? Haben Sie finanzielle Zuwendungen von einer der genannten Stellen erhalten? Haben Sie eine Verpflichtungserklärung zur Zusammenarbeit mit einer der genannten Stellen unterschrieben?“ Bei Frage 20 soll beantwortet werden: „Haben Sie vor dem 9. November 1989 eine Funktion in der SED, in einer anderen Blockpartei, in Massenorganisationen/gesellschaftlichen Organisationen oder eine sonstige herausgehobene Funktion im System der ehemaligen DDR ausgeübt?“

Was aber passiert mit denen, die eine oder mehrere dieser Fragen tatsächlich mit Ja beantworten sollten? „Welche Schlußfolgerungen die Bezirke und der Innensenat aus den Daten ziehen, ist unklar“, sagt Stefan Woll, Pressesprecher des Berliner Innensenators. Man wolle „keinen flächendeckenden Jauchekübel über den Lehrern auskippen“, sondern im Einzelfall, wenn konkrete Anhaltspunkte bestünden, die Verbindungen zur Stasi überprüfen.

Der Berliner Datenschutzbeauftragte Hansjürgen Garstka hält die Verwendung dieser Daten „derzeit für unzulässig“. Zuerst, so Garstka, müßten die Zwecke genau festgelegt werden, zu denen die Daten genutzt werden dürfen. Außerdem fehlten die Bestimmung der Personen, die Zugriff auf die Daten haben, sowie die besonderen Bestimmungen über die Offenbarung derselben. Geregelt werden müsse auch, wie und wie lange die Daten aufbewahrt werden. Auf keinen Fall dürfe dieser Teil des Fragebogens in die Personalakte kommen.

Auch der Vorsitzende der Berliner GEW, Erhard Laube, hat seine Bedenken gegen den Fragebogen angemeldet. In einem Schreiben an den Regierenden Bürgermeister vom 29.11. moniert er: Das „bürokratische politische Überprüfungsverfahren“ entspricht nicht den internationalen rechtsstaatlichen Normen und leistet „vor allen Dingen keinen Beitrag zur Stärkung der Demokratie und zur Festigung demokratischen Bewußtseins der neuen Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik, die eben erst das Joch eines undemokratischen, autoritären und unmenschlichen Regierungssystems abgeschüttelt haben“. Dennoch hat es die GEW bisher vermieden, ihre Mitglieder in den neuen Bundesländern öffentlich dazu aufzufordern, diese Fragebögen nicht auszufüllen, weil, so Laube, „die Folgen einer Verweigerung nicht abschätzbar sind“.

Viele würden zwar den Fragebogen „am liebsten einfach wegschmeißen“, beschreibt Sylvia U. die Stimmung an ihrer Schule. Aber eben nur, „wenn alle Kollegen mitmachen“. Die Annahme, daß jemand, der wirklich Dreck am Stecken hat, wahrheitsgemäße Angaben macht, hält sie für „ziemlich absurd“: „Lothar de Maizière ist doch das beste Beispiel, wie man die fristlose Kündigung noch eine ganze Weile hinauszögern kann.“

*(Name von der Redaktion geändert)