piwik no script img

Ohne Atomstrom über den Winter

■ Westdeutscher Stromchef: Versorgung in den neuen Ländern gesichert/ Weniger Bedarf als 1989

Berlin (taz) — Die Menschen in den neuen Bundesländern können dem bevorstehenden Winter gelassen entgegensehen — jedenfalls, was die Versorgung mit Elektroenergie angeht. Das erklärte gestern, am Tag, an dem die Greifswalder Atomstromquelle vollständig versiegte, der Hauptgeschäftsführer der Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke (VDEW), Joachim Grawe.

Nach der Stillegung vieler, insbesondere stromintensiver Industriebetriebe liegt der Verbrauch an Elektroenergie in der ehemaligen DDR heute um etwa ein Viertel niedriger als vor Jahresfrist. Damit kann die mit dem Zusammenbruch der Atomstromkapazität entstandene Versorgungslücke locker verkraftet werden. Engpässe seien höchstens zu befürchten, wenn bei Temperaturen unter 15 Grad minus die stark wasserhaltige Braunkohle einfriert.

Der VDEW-Chef rechnet damit, daß zur Sanierung der gesamten Elektrizitätswirtschaft in den neuen Ländern bis zum Jahr 2000 etwa 50 bis 60 Milliarden Mark investiert werden müssen. Vorrangig gehe es um die Modernisierung und den teilweisen Neubau des Kraftwerkparks, der bis 1996 westliche Schadstoffstandards erfüllen soll. „Bis zur Hälfte der Braunkohle-Kraftwerkskapazität kann ökonomisch nicht nachgerüstet werden“, meint Grawe. Bei kleineren Anlagen lohne sich der Einbau teurer Rauchgasentgiftungsanlagen nicht mehr.

Bis zur Winterperiode 1992/93 soll das Stromnetz der neuen Länder ausreichend an das westeuropäische Verbundnetz angekoppelt sein. Der VDEW-Chef rechnet damit, daß der Stromverbrauch in Ostdeutschland noch zwei Jahre stagniert oder sogar weiter absinkt, um dann allmählich wieder nach oben zu klettern. Um die Jahrtausendwende werde er erneut die Höchstmarke von 1989 erreichen. Grawe erwartet nicht, daß die bevorstehende Verdreifachung der Strompreise für Privathaushalte zu erheblichen Einsparungen führen wird. Der Strukturwandel der Industrie hin zu weniger energieintensiven Sparten werde voraussichtlich kompensiert durch die flächendeckende Ausstattung der Haushalte mit modernen Elektrogeräten.

Mittelfristig hält der Stromchef deshalb den Wiederaufbau von Atomstromkapazitäten auf dem Territoium der ehemaligen DDR für „unerläßlich“. Entweder sollen die Bauruinen in Greifswald (vier Blöcke à 440 Megawatt) und Stendal (zwei Blöcke à 1.000 Megawatt) mit Westtechnologie auf Vordermann gebracht oder gleich neue Reaktoren aus dem Westen importiert werden. Eine Entscheidung darüber wird bereits im ersten Quartal des kommenden Jahres erwartet. Auf die Frage, ob es im Fall eines Neubaus bei den alten Standorten bleibe, meinte Grawe: „Ein einmal erschlossener Standort hat immer einen gewissen Charme.“ Gerd Rosenkranz

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen