Als Meister Nadelöhr Pittiplatsch besuchte

■ Wie Pippi Langstrumpf & Co die Symbole des märchenhaften DDR-Alltags gerettet haben/ Ein Text nicht nur für Kinder

Märchenland. Eines schönen Tages, und das ist noch gar nicht so lange her, fuhr Pitti Platsch mit seinem Spezial-Trabi über die kopfsteingepflasterten Straßen des Märchenlandes. Ein paar Zentimeter Pulverschnee waren gefallen, die helle Wintersonne stand tief am blauen Horizont, und aus dem Autoradio erschallten die Klänge der Popgruppe Karat. Es klang ein bißchen komisch, als er mit seiner krächzenden Stimme in den Evergreen Über sieben Brücken mußt du gehn einstimmte, aber Gott sei Dank hörte ihm ja keiner zu.

Pitti wollte Schnatterinchen besuchen, weil er in der Nacht zuvor ziemlich komisches Zeug geträumt hatte. Meister Nadelöhr, ein zu Anfang der 70er Jahre verstorbener Kollege aus dem Märchenland, war ihm zur Geisterstunde erschienen.

Nadelöhr war vor knapp 20 Jahren von der Bildfläche verschwunden. Seitdem lebe er im Jenseits, meinte der alte Meister, genauer gesagt: jenseits vom Märchenland. Da daß Märchenland wiederum hinter der Mattscheibe zu finden ist, trieb sich Nadelöhr also seit seinem Ableben vor dem Fernseher, also in der sogenannten realen Welt herum. Da seien in den letzten zwölf Monaten unglaubliche Dinge passiert, klärte Nadelöhr Pitti Platsch auf. Davon, daß der böse Onkel mit dem Strohhut abgesetzt worden war, hatte Pitti schon von Schnatterinchen gehört, weil die in der Kaderleitung des Märchenlandes saß und ganz gute Kontakte nach draußen hatte. Der aufgeregte Nadelöhr erzählte weiter, daß sich eine Gruppe von häßlichen Gnomen, bösen Feen, fiesen Zauberern und einer bis dato unbekannten Gattung namens Gremlins verschworen hatten. Sie nannten sich »Bewegung dritter Oktober« (kurz: BdO) und propagierten die Generaloffensive gegen das Märchenland. Strategie der BdO sei es offenbar erst die Außenstellen des Märchenlandes jenseits der Mattscheibe anzugreifen. Die BdO benutze dabei völlig neue Zauberwörter wie beispielsweise »abwickeln!«, »auflösen!« oder, besonders perfide, »freisetzen!«. Pitti hatte so was noch nie gehört, und es fielen ihm auch keine Bannwörter ein. Den Tränen nahe berichtete Nadelöhr, daß nun auch der Tierpark, die flächenmäßig größte Dependance des Märchenlandes in der Außenwelt, »abgewickelt« werden solle. Der alte gute Onkel, der in inmitten des Parks lebe und ein Freund aller Tiere sei, müsse sein Haus innerhalb eines halben Jahres verlassen. Er könne zur Not zwar in der Villa Kunterbunt einziehen, ob er es aber lange mit der aufgeweckten und fidelen Pippi Langstrumpf aushalte, sei fraglich. Zuvor habe ein mächtiger Zauberer, ein gewisser Mühlfenzl, erfolgreich Frequenzen geschrumpft wie weiland der kleine König Kalle Wirsch den miesen Zoppotrump.

Ebenfalls gefährdet sei der grüne Pfeil, der in der Außenwelt auf wundersame Weise jeden Tag den Verkehr regelt. »Ihr müßt unbedingt was dagegen tun!« hatte Nadelöhr noch gesagt und war dann über den fahlen Lichtstrahl des Vollmondes aus Pittis Schlafzimmer geklettert und verschwunden. Das alles hatte Pitti sehr traurig gemacht.

Bei Schnatterinchen angekommen, berichtete er von der seltsamen Begegnung mit Nadelöhr. Schnatterinchen hörte aufmerksam zu, und als Pitti zu Ende erzählt hatte, war sie sprachlos. Pitti schlug vor, sofort Pippi Langstrumpf zu kontaktieren und ein Aktionsbündnis gegen die BdO zu gründen. Schnatterinchen war zunächst dagegen, weil Pippi ihr einmal gesagt hatte, sie fände Schnatterinchen eine doofe Gans, weil sie immer petzen würde, und in Taka-Tuka-Land gebe es auch keine Kaderleitung, weil, so was bräuchte man überhaupt gar nicht. Schließlich ließ sie sich doch überreden, aber nur unter der Bedingung, daß man auch die Einwohner von Lummerland in das Aktionsbündnis miteinbeziehe. Pitti fand das okay, obwohl er wegen seines Aussehens ein gewisses Konkurrenzverhältnis zwischen ihm und Jim Knopf befürchtete. Nach mehrstündiger Diskussion, an der auch Moppi, Brummi, Frau Elster und Herr Fuchs teilnahmen, einigte man sich auf einen vorläufigen Aktionsaufruf, der natürlich noch mit den eher konservativen Lummerländern, den antiautoritären Kindern aus Bullerbü sowie der Anarchofraktion aus der Villa Kunterbunt abgestimmt werden mußte.

Die Aktion gegen die BdO war natürlich ein voller Erfolg. Alle Anhänger der »Bewegung dritter Oktober« wurden in kleine häßliche Kröten verwandelt und im Drachenland ausgesetzt. Die Außenstellen des Märchenlandes blieben erhalten, es kamen sogar noch neue hinzu wie beispielsweise das »Tim and Struppi Memorial Center« oder die ständige Ausstellung im Palast der Republik über den Einfluß von Emil und den Detektiven auf den »film noir« in den vierziger Jahren. Denn, so formulierte es der weise alte Drachen aus dem Lummerland, dessen Name hier nichts zur Sache tut: »Es geht eher ein Mühlfenzl durch ein Nadelöhr, als daß die BdO in das Märchenland kommt!« CC Malzahn (vorne ohne h!)