Eine aufregende Steifheit

■ Chancenlose Singles und zufriedene Paare beim Tanztee im Quartier

Das Single-Dasein ist nicht leicht. Das weiß man inzwischen auch im Quartier: Zum sonntäglichen Tanztee brauchen jetzt auch Singles statt 20 Mark nur noch 15 Mark Eintritt zahlen, Paare (gleichgeschlechtlich oder nicht) durften schon immer für 30 Mark an den Palast-Orchesterklängen teilhaben. »Als einsamer Tänzer hat man es doch sowieso schon schwer genug«, meint der Kassierer an diesem verregneten Sonntagnachmittag lakonisch.

Wie recht er hat! Die mit rotem Velour bezogenen, dicht an dicht stehenden Stühle lassen die Besucherin erst einmal abwartend die Beine übereinander schlagen. Schnatternde Pärchen, einzeln oder in Gruppen, rauschen herein, in steifen, zugeknöpften Jackets (die erst im Sitzen aufatmend geöffnet werden) oder bügelgefalteten Jeans, in duftig wehenden Röckchen oder großblumiger Bluse — von Justizsenatorin Jutta Limbach über die unbekannte Studentin bis hin zu einer mehr oder weniger autonomen Radiomoderatorin sind alle gekommen. »Ich brauche keine Millionen«, umschmeichelt die kehlige Stimme des Sängers Max Raabe die Tanzenden, die sich inmitten des rot-goldenen Interieurs in das schwüle Ambiente der 20er Jahre versetzt fühlen.

Ein angegrautes Paar läßt keinen Tanz aus, perfekt, ja, fast zu perfekt schmiegt und dreht sie sich so, wie er es ihr mit leichtem Körperdruck unmerklich befiehlt, führt er sie mit gerader Schulterlinie und leichtem Hüftschwung — nicht übertreiben, immer Herr über die Musik bleiben! — über die Tanzfläche. Foxtrott können sie alle, kühn schwingen die Hüften bei der Rumba, wie in einem alten Film schweben die Füße beim Wiener Walzer mit elfenhafter Leichtigkeit über das Parkett — so glauben es die Tanzenden, und es ist ihnen egal, ob diese Gefühle mit dem Eindruck der Zuschauer übereinstimmen. Härter, fordernder dann die Rhythmen des lateinamerikanischen Ensembles »Vernissage«: eins-zwei-drei-chacha, eins-zwei-drei-chacha, Paso doble, Tango oder Samba — die Justizsenatorin bewegt sich zurückhaltend, die Krawatte des Studenten führt hüpfend vor lauter Euphorie auf seiner Schulter ihr Eigenleben. Standardtanz par excellence, wie damals an den kaum weniger steifen pubertären Tanzschulnachmittagen, und dennoch oder gerade deswegen sind diese Tanztees nicht minder aufregend, ein wenig nostalgisch und in jedem Fall eine kleine sonntägliche Flucht aus dem hektischen Treiben in das nächste Jahrtausend.

Doch wehe den einsam an den Tischen Zurückgelassenen, den männlichen und weiblichen Mauerpflänzchen! Die Kellnerin bringt immer nur Kaffee oder Tee, aber niemals den Gruß eines heimlichen Anbeters oder gar seine Aufforderung zum Tanz! Die ordentlich auf den Tischen aufgereihten Telefone dienen allenfalls der Belustigung glückseliger Paare, die sie und sich glucksend befingern, doch niemals erklingt das bekannte Summen, das im Büro so schrill ist und hier so erregend wäre. Kein prickelnder Blick über perlendem Sekt — ein zweites Cafe Keese ist das Quartier am Sonntagnachmittag eben doch nicht.

Dennoch wäre es für Standardtänzer ein herber Verlust, wenn der gerade erst seit Anfang Oktober im Quartier-Programm installierte Tanztee mangels Sponsor im kommenden Jahr eingestellt würde. Den Singles soll hier die Erkenntnis eines Populärpsychologen verraten werden, die er vor einigen Monaten in einer Illustrierten veröffentlichte. Demnach werden ganz besonders schöne Menschen niemals von Fremden angesprochen, geschweige denn zum Tanzen aufgefordert. Ein ausreichender Trost? maz