: Auch ein Fall Clever
■ Hans Jürgen Syberbergs und Edith Clevers „Ein Traum, was sonst?“ im Berliner Hebbel-Theater
Edith Clever tut nichts. Manchmal schließt sie die Augen. Einmal wippt sie mit dem Fuß. Sonst sitzt sie da, im engen, langen, schwarzen Kleid und hält ein Weinglas in der Hand. Einmal steht sie auf und geht langsam nach hinten ins Halbdunkel. Man sieht nur noch einen Schatten. Sie zieht einen Mantel an. Das Radio spielt Kriegsende: BBC-Aufrufe zur Desertion, Hitlerreden, Thomas Mann, Üb' immer Treu und Redlichkeit. Dann läuten die Glocken, und Edith Clever lächelt. Ein wissendes, souveränes Lächeln. Ihr erster Satz handelt vom „Glück in der Vergangenheit“. Sie sagt ihn nach 40 Minuten.
Nichtstun auf der Bühne ist vermutlich eine große Kunst. Ich glaube sogar, daß Edith Clever sie beherrscht. Dieses Keine-Miene-Verziehen und noch aus der Reglosigkeit ein Theater machen. Bis man irgendwann merkt, daß sie ja dasselbe tut wie wir — bloß dasitzen und zuschauen und man sich danach sehnt, daß sie endlich ihre Stimme erhebt. Wir sind doch das Publikum, nicht sie. Aber man bekommt auch Angst vor der Stimme. Sie hat so große Macht. Edith Clever könnte das spielen. Aber um all das geht es nicht.
Clever und ihr Regisseur Syberberg machen kein Theater. Sie haben bloß etwas zu sagen und dafür benutzen sie die Bühne. Auf dem Programmzettel steht, es handele sich um die Schwiegertochter Bismarcks, die am Kriegsende auf ihrem Gut in Pommern die letzte Nacht verbringt, bevor die Russen kommen. Ihr Grab ist schon geschaufelt: „eine Pommersche am Ende Preußens“. Zu sehen ist das nicht. Zwar ein Erdhaufen mit Schaufel, zwar Geräusche von trappelnden Pferden (das ist Marion Gräfin Dönhoff auf ihrem Ritt in den Westen, steht auf dem Zettel) und Vogelgezwitscher und Beethovens Pastorale und ein Satz von Hekuba nach dem Ende Trojas. Aber das sind alles bloß Zitate, ein Standpunkt wird markiert, sonst nichts. Spätestens als Clever ein dickes Buch über die Bühne schleppt und es beim Aufschlagen so hält, damit wir auch ganz bestimmt alle den Titel lesen können — Das Berliner Schloß — ist dieser Theaterabend vorbei, ehe er begonnen hat.
In der Marquise von O. hatte Edith Clever rezitiert. Diesmal ist es wieder Kleist, Der Prinz von Homburg, dazu noch Goethe, Faust II. Aber diesmal rücken die beiden nicht mehr der Literatur, dem kleistschen Satzbau mit den Mitteln des Theaters zu Leibe, diesmal geht es nur noch um „Stellen“. Um passende Stellen. Aus dem Prinz von Homburg wird die zitiert, an der der Prinz seinen Ungehorsam einsieht und nicht mehr um Gnade fleht, sondern um den gerechten Tod. Eben deshalb wird er am Ende begnadigt und bekommt seine geliebte Nathalie. Leben darf nur, erzählt diese Stelle, wer bereit ist, für seine Ideale zu sterben. Vom Heiligtum Vaterland ist die Rede bei Kleist. Aber dieses Heiligtum gerät in Konflikt: Der Prinz ist ja zunächst jämmerlich feige — das Offiziersstück wurde damals vom Königlichen Schauspielhaus als zu unpreußisch abgelehnt — und ist in seiner Feigheit nicht unsympathisch: Immerhin liebt ihn eine Frau dafür.
Bei Syberberg/Clever gibt es keinen Konflikt, bloß die pathetische Feier von Vaterlands- und Gesetzestreue. Held ist, wer sich der Staatsräson unterwirft. Daß es heldenhafter sein kann, leben, statt sterben zu wollen, zu desertieren, statt in den Krieg zu ziehen — welch schändlicher Gedanke.
Deshalb auch Faust II nach der Pause: „Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß“. Und die Schlußverse ,„Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“, klingen an diesem Abend eher wie ein Argument für die Wiedereinführung der Todesstrafe. Clever/Syberberg machen kein Theater mehr, sondern Propaganda. Propaganda dafür, daß es Menschen gibt, die es verdient haben zu leben und solche, die es nicht wert sind.
Nur einmal gibt Edith Clever ihre Haltung auf. Nur einmal, ganz kurz, spielt sie großes Theater. Sie spielt den Mephisto, der Faust hämisch und ungehobelt mitteilt, die Hütte, die dem Weltenbesitzer ein Dorn im Auge war, sei leider mit den beiden Alten abgebrannt. Ein kleiner Mord aus Machtgier, nichts weiter. Die Lust am Bösen, für einen Moment blitzt sie auf, eben deshalb, weil Edith Clever diesen einen Augenblick lang, keine Meinung vertritt, sondern eine Rolle verkörpert. Aber dann legt sie schon wieder die Hand an die Stirn und schlafwandelt in Zeitlupe über die Bühne. Nur noch hoher Ton, nur noch „höchste Augenblicke“.
Der Fall Syberberg ist längst auch ein Fall Clever. Christiane Peitz
Hans Jürgen Syberberg, Edith Clever: Ein Traum, was sonst? Hebbel-Theater Berlin. In Zusammenarbeit mit dem „Festival d' Automne“ Paris, dem Kaai-Theater Brüssel, der „Szene“ Salzburg. Weitere Aufführungen: 19. 12., 25., 26., 28., 29. 1. 91.
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