Die rote Kugel der Zeit

Luc Bondy inszeniert „Das Wintermärchen“ von Shakespeare an der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz  ■ Von Sabine Seifert

Es war einmal ein Wintermärchen von Shakespeare, und das begann auch mit: Es war einmal eine Geschichte, und zwar eine traurige, für den Winter. Ein roter Ball rollt durch den Bühnenraum, in dem der kleine Geschichtenerzähler sich niedergelassen hat. Der Ball durchmißt den Raum wie der Erzähler die Zeit, die selbst zum Erzähler der wunderlichen Geschichte wird. Wie sagt die Zeit in Akt IV, Szene 1: „...meine Macht kennt/ Kein Gesetz und kann in einer Stunde ganz von/ Sich aus etwas gründen und vernichten ... Ich bezeuge, was war,/ Und so werde ich es tun mit dem, was jetzt/ In Blüte steht, und schal, unter meinen Worten jetzt, wird das Gleißen dieser Gegenwart.“

Eine verschrobene Geschichte, ein Märchen, eine Romanze. Vom König Leontes, der inmitten der schönsten Idylle vom Alb der Eifersucht gepackt wird und daraufhin seinen Freund Polixenes (Böhmen liegt offensichtlich gleich neben Griechenland am Meer) verstößt, seine vermeintlich untreue und hochschwangere Frau Hermione einkerkern und die in der Haft geborene Tochter Perdita außer Landes aussetzen läßt. Diese wird in Böhmen von Schäfern großgezogen, wo sich Florizel, der Sohn des Polixenes, in sie verliebt und mit ihr nach Sizilien flieht. Perditas prinzeßliche Herkunft wird entdeckt, die totgeglaubte Mutter Hermione steigt vom Sockel und wandelt feengleich wieder unter den Lebenden.

Sizilien ist licht und kühl, Böhmen dagegen winterlich warm. Zeitenscheide und ein Sprung von sechzehn Jahren. Erich Wonder hat mit blaumelierten Bühnenwänden den hohen, unmöblierten Raum eines italienischen Hauses markiert, durch dessen rechteckige Aussparungen und Türen Licht fallen und den Hintergrund unterschiedlich ausleuchten kann. Böhmen präsentiert sich dagegen als waldige Hügellandschaft auf einem mal sonnenklar, mal nächtlich dunkel beleuchteten Bühnenprospekt.

Bei Luc Bondy tönt die traurige Geschichte mit dem heiteren Kern und dem tristen Happy-End (von Peter Handke neu und sehr schön übersetzt) zunächst ernst und komisch, dann ausgelassen komisch und zuletzt von allem etwas. In den mittleren Partien zieht der Regisseur gewitztere Saiten auf. Polixenes und der zu ihm geflüchtete Camillo pflegen die winterliche Lagerfeuerromantik mit Zelt und Matrazenlagerstätte. Die böhmische Landjugend tummelt sich im Zigeuner-Western- Look an der Musikbox, und der Spitzbube Autolycus (Ernst Stötzner) geht mit Dylan-Songs bei ihnen hausieren wie abkassieren. Der Schäfersohn (Gerd Wameling) kämmt seine echte Schaffellhose für die Mädels, er ist gar nicht so dumm wie er tut, aber umwerfend komisch. Das Schäferspiel als komödiantische Einlage. Doch zurück:

Siziliens König Leontes (Hans Christian Rudolph) wähnt sich gehörnt und bezichtigt auf geradezu obszöne Weise („Es war Polixenes, von dem/ Du so anschwollst“) vor versammelter Mannschaft seine Frau der Untreue. Da gerät eine private Angelegenheit zu Politik. Leontes' Eifersucht ist komisch, die Taten, die ihr folgen, schlimm. Hermione (Corinna Kirchhoff) umarmt ihren Gatten ungläubig, appelliert an das natürliche Vernunftsgefühl der anderen und nimmt ihre Verhaftung letztlich selbst in die Hand. Denn die Herren in den schwarzen Anzügen, die Leontes als Regierungsberater dienen, scharren verlegen mit den Füßen, als sie zum Ausführen seiner harschen Befehle aufgefordert werden. Monarchie heißt diese keineswegs märchenhafte Staatsform und ist ein autoritäres Staatsgebilde, keine egalitäre Vereinsmeierei.

Bloß Antigonus gehorcht nicht, seine Frau Paulina hat interveniert. Eigentlich halten bei Shakespeare die äußerlich machtlosen Frauen die Macht in den Händen, die Macht über den Mann. Ein Mann wie Leontes ist wie der Irre, der plötzlich klar sieht, was ihm alles zustoßen könnte, die anderen, die naiven Trottel. In devoter Haltung harkt der König später die Anlage am Grab seiner Frau. Paulina (Libgart Schwarz), Hermiones Vertraute, wird den reuigen Leontes immer wieder seinen Schuldspruch herunterbeten lassen. Sie ist auch diejenige, die Hermiones vermeintlichen Tod bekannt gibt, die Königin sechzehn Jahre bei sich versteckt und genüßlich eine letzte Lektion erteilt, indem sie Hermione als Statue vorführt und angeblich zum Leben erweckt — selbstgemachte Marienlegende, die Braut trägt Weiß. Eins bemerkt der gerührte Bräutigam Leontes doch, auch Hermione ist um einige Falten älter geworden.

William Shakespeare: Das Wintermärchen. Deutsch von Peter Handke. Regie: Luc Bondy. Bühne: Erich Wonder. Mit Hans Christian Rudolph, Corinna Kirchhoff, Libgart Schwarz, Ernst Stötzner, Gerd Wameling, Dörte Lyssewski, Matthias Paul. Schaubühne Berlin. Nächste Aufführungen: 18., 19., 21., 22.12.90