Von den Tränen der Komsomolzin

■ Jerofejews „Die Reise nach Petuschki“, vom Berliner Zan Pollo Theater dramatisiert

Die Reise nach Petuschki, ein „Poem in Prosa“, wie sein Autor Wenedikt Jerofejew es nannte, zählt inzwischen zu den Klassikern der neueren russischen Literatur. Zwanzig Jahre ging die burlesk-traurige Geschichte eines russischen Don Quichote und seiner unglücklichen Reise in maschinengeschriebenen Samisdat-Exemplaren von Hand zu Hand, wurde so zur Legende, lange bevor sie 1989, kurz vor Jerofejews Tod, endlich in riesigen Auflagen in dessen Heimat erscheinen konnte. Das Berliner Zan Pollo Theater entdeckte den Text jetzt für sich, Dieter Dolch bearbeitete ihn für die Bühne.

Der unglückliche, hauslose Säufer Wenitschka, der bei seinen Streifzügen durch Moskau auf der Suche nach dem Kreml diesen niemals findet, sondern stets — wie immer er es auch anstellt — im Restaurant des Kursker Bahnhofs landet, macht sich auf die Reise in die Provinzstadt Petuschki. Er sehnt sich nach seiner „Göttin“, die ihn dort angeblich auf dem Bahnhof erwartet, verlangt nach seinem Söhnchen, wünscht sich einen Rest Geborgenheit und Liebe. Doch existiert seine „Göttin“ überhaupt oder ist sie nicht auch nur eine seiner vom schrecklichen Fusel erzeugten Halluzinationen wie Engel, Sphinx und Fürstin? Die Reise nach Petuschki führt durch Träume und Alpträume in die Bewußtlosigkeit, in eine Ohnmacht, die für den Zustand des russischen Lebens steht.

Wenitschka ist nicht nur ein heruntergekommener Alki, sondern auch Kenner der Geschichte und des Auslands, ein Philosoph und Dichter. Er erzählt vom russischen Trübsinn, wiegt sich in hoffnungsvoll trunkenen Wünschen und wird Opfer der nüchternen Grausamkeit und Tristesse des Alltags und der selbstzerstörerischen russischen Seele. Phantastische Dinge nehmen ihren Lauf: Das erstaunte Publikum erfährt das Rezept des Cocktails „Träne der Komsomolzin“ (15 g Lavendel, 15 g Eisenkraut, 30 g Rasierwasser, 2 g Nagellackentferner, 150 g Mundwasser, 150 g Limonade), ein Schaffner kassiert das Fahrgeld in hochprozentiger Form, es tagt ein Zentralkomitee der Trinker... Je länger die Fahrt und je trunkener die Reisenden, desto surrealer die Atmosphäre.

Längst ist Wenitschkas Koffer gestohlen, der Zug leer, draußen Nacht, obwohl man doch schon um elf Uhr morgens in Petuschki sein wollte. Petuschki scheint unerreichbar wie der Kreml — oder wie einst Moskau den drei Tschechowschen Schwestern. Als Wenja zu sich kommt, findet er sich auf dem Kursker Bahnhof wieder. Vier gespenstische Typen verfolgen ihn durch die Nacht, schlagen ihn nieder und peinigen ihn wie den gekreuzigten Christus.

War alles, die Reise nach Petuschki ebenso wie die ganze russische Geschichte der letzten siebzig Jahre, nur ein Alptraum? Sitzt in dem Vorortzug, der nicht zum Ziel, sondern immer nur wieder zum — in seiner Schrecknis gesteigerten — Ausgangspunkt zurückbringt, das ganze Land? Und: Wenjas, des kleinen Mannes, Glück — ist es nicht wie der Gogolsche Mantel, auf den man ewig hart spart und der einem schließlich von den Gespenstern der Macht entrissen wird?

Der russische Originaltext lebt von der Verbindung vulgärer Gossensprache mit Anspielungen auf die Sprache klassischer Literatur, vom Nebeneinander derber Komik und russischen Pathos — eine Mischung, die für den deutschen Zuschauer nicht immer nachvollziehbar sein mag. Vielleicht deshalb nimmt der der Bühnenfassung zugrunde liegende Text des Piper-Verlags längst nicht alle Möglichkeiten und Facetten der Emotionalisierung mittels Sprache auf, bleibt — bei allem Surrealen — alltäglicher, leiser. Auch geht die Inszenierung — offensichtlich absichtsvoll — eher sparsam mit russischem Kolorit um.

Bernd Raucamp als Wenitschka läßt das Publikum zwischen Lachen und Betroffenheit schweben. Das Quartett der mitreisenden Männer verleiht der Unternehmung komödiantischen Schwung. Zum Schluß gab es viel Applaus, russische Piroggen und jenen Moskauer Wodka, der die Hauptrolle spielte. Maria Löwy

Wenedikt Jerofejew: Die Reise nach Petuschki . Deutsche Bühnenfassung: Dieter Dolch. Regie: Peter Schöttle. Mit Bernd Raucamp u.v.a. Zan Pollo Theater Berlin. Nächste Aufführungen: 19. bis 23.12. sowie 25. bis 31.12.

Weitere Texte von Jerofejew in deutscher Übersetzung erschienen in den Heften 8/90, 9/90, 10/90 der Zeitschrift 'Lettre International‘.