Vom Chaos der Liebe

Goethes „Stella“ und Friederike Roths „Das Ganze ein Stück“ im Kölner Schauspiel  ■ Von Gerhard Preußer

Die Bühne hängt voll Wäsche, Bettlaken auf der Leine, dazwischen zwei Kinder auf einer Wippe. Das kleine häßliche Mädchen will ein Märchen erzählen: vom Grafen, seiner Gemahlin und der schönen fremden Königstochter. Der dümmliche Knabe springt von der Wippe, und die Kleine fällt plärrend auf den Boden. Sie greint, krakeelt und zetert mit aller Boshaftigkeit einer aufsässigen Göre. Die Mutter kommt laut schimpfend herbei. Die Bühne ist voll von Gekreisch, Gejammer und Kindergebrüll.

So herzig inszeniert Günter Krämer den Beginn von Goethes „Stella“. Er enttäuscht die Erwartungen: kein empfindsames Konversationsstück für schöne Seelen diesmal. Krämer spiegelt die hohe Handlung auf der derb vulgären Ebene des Kinderspiels. Aber er zertrümmert das Stück nicht, er pflügt es um. Alles wird umgedreht, übereinandergeworfen, um zu prüfen, was für uns auf diesem ausgelaugten, überdüngten Acker noch alles wachsen kann. Und das Resultat: Siehe da, fruchtbar ist der Boden noch, aus dem die bürgerliche Ehe kroch.

Die schwarze Bühne ist mit Herbstlaub bedeckt, ein paar Stühle stehen rum. Nur ganz hinten blickt man durch eine doppelte Milchglasscheibe hinaus ins Freie. Köln, Fußgängerzone, Parkhaus, Weihnachtsbeleuchtung. Verschwommen zeichnen sich die Passanten ab, drücken sich die Nasen platt, sehen hinab auf die Bühne in den Saal, ohne etwas zu verstehen, beobachtete Beobachter schauen auf eine schwer verständliche alte Geschichte. Die Theaterzuschauer erkennen hinter den Bühnenfiguren schemenhaft Menschen aus der modernen Konsumwelt. Das sind Klassikerinszenierungen heute.

Fernando, der unentschiedene, schwankende Held, wird von einer Frau gespielt. Als Männerrolle ist er sowieso undankbar, dieser gute Bösewicht ohne Format. Als Frauenrolle dagegen ist er ein lohnenswertes Studienobjekt. Wie machen die Männer das, sich so bewegen, daß die Frauen gehorchen? Wie machen die Männer das: zwei Frauen zugrunde richten und dann sich noch damit rechtfertigen, sie seien sich ihrer Schuld ja bewußt? Susanne Barth kriecht in diesen wankelmütigen Liebhaber hinein, und was wir sehen, ist der Mann als Kunstprodukt einer Frau, sorgfältig zusammengesetzt aus einzelnen Gesten und Wendungen, ein seltsames Tier, das mit Rasierklingen, Gewehren und Hosenlätzen hantieren kann. Die kuriose Besetzung stellt an jeden Satz die Frage: Männerperspektive oder Frauenperspektive? Cäcilie sagt, sie bedaure Fernando, der sich an die junge Stella gehängt hat, und dann klagt: „Er betrügt sich eine Zeitlang, und wehe uns, wenn ihm die Augen übergehen.“ Sagt hier eine Frau, die Männer kennten sich selbst nicht und würden sie sich kennen, dann wäre das das Unglück der Frauen? Oder legt hier ein Mann einer Frau die Erkenntnis in den Mund, daß er sich selbst betrüge und daß diese Selbsttäuschung auch den Frauen schade? Die Frauenrollen Cäcilie und Stella sind mit soviel Empathie geschrieben, daß sich Männer- und Frauenperspektive unentwirrbar vermischen. Das Muster ist komplex genug, daß Männer und Frauen jeweils ihre eigenen Figuren darin erkennen können.

Um das Stück durchsichtig zu machen für einen modernen Blick, um es für eine Sicht zu öffnen, für die die weibliche Perspektive gleichberechtigt neben der männlichen ist, wertet Krämer auch die Frauenrollen um. Nicht Stella, die Titelheldin, ist die Hauptrolle, sondern Cäcilie, die leidende Gattin. Stumm und passiv ist sie der Gegenpol zur geschwätzigen, überaktiven Stella. Ingrid André bringt es fertig, mit den wenigen Sätzen, die Krämers Strichfassung Cäcilie läßt, alle Aufmerksamkeit auf sich zu konzentrieren. Magdalena Eberle bringt es fertig, daß man keinem der endlos aus Stella hervorquellenden Gefühlssätzen zuhören will. Hölzern, albern und aufdringlich plappert sie daher. Der Regisseur zeigt deutlich, was er von der Rolle hält, wenn er das debile Annchen, die plärrende Tochter der Postmeisterin, ihr bei ihrem großen Monolog die Schau stehlen läßt.

Der Schluß von Goethes Erstfassung, die in Köln gespielt wird, ist reine Männerphantasie: eine ménage à trois, das heimliche Ideal des Patriarchats. Fernando kann die Geliebte und die Gattin zugleich genießen. Alfred Kerr nannte diesen Schluß ein „treuherziges Wahnfried“ für die schweifende Sucht jedes Mannes. Nach Dialogen, Seelenergüssen und Selbstprüfungen folgt plötzlich eine Erzählung: das Gleichnis vom Grafen von Gleichen, dem frommen Kreuzritter und Bigamisten mit päpstlicher Lizenz. Irreal und märchenhaft war dieser Schluß schon immer.

Krämer macht das bis zur Penetranz deutlich, indem er Annchen immer wieder den Anfang dieser Beispielgeschichte erzählen läßt. Diese Sehnsuchtsprojektion von der Vereinbarkeit von Gattin und Geliebter wird zum Leitmotiv des Stückes. Und dann, wenn alle drei schon ihre Mord- und Selbstmordpläne durchgespielt haben, ergreift Lucie, die naseweise Tochter Cäcilies, die Initiative und zitiert aus dem gelben Reclam-Heft: „Ein Schauspiel für Liebende. Der Schluß von 1776 hat aus moralischen Gründen Anstoß erregt und zu Aufführungsverboten geführt. Er lautet:...“ Und nun darf Fernando sein „Mein! Mein!“ vortragen und Cäcilie und Stella sprechen tonlos ihr „Dein! Dein!“. Aber dann geht das Geplärre wieder los. Annchen ist wieder von der Wippe gefallen. Wieder keift die Postmeisterin. Die Wirklichkeit hat uns wieder, der Traum ist aus, alles von vorne.

Nach einer Stunde Pause folgt Friederike Roths „Das Ganze ein Stück“, der moderne Gegenpol in Krämers Konstellation. Die Perspektive wechselt wieder. Vom Bühnenraum, in dem eben noch Goethes Familien-Trio spielte, sieht das Publikum nun in den Zuschauerraum. Nicht mehr auf eine seltsame, alte Geschichte blicken wir, sondern auf uns, unseren bizarren, verworrenen Liebesalltag. Im Hauptteil des aus Bruchstücken bestehenden Ganzen sehen wir eine Kulturgesellschaft, wie wir sie gerade erst im Foyer gesehen hatten, auf- und abgehend, sich begrüßend, sich zeigend, sich beredend. Auf der anderen Seite der Bühne, im Zuschauerraum betrachten zwei andere Beobachter dieselbe Kulturgesellschaft. Aus ihrer Sicht gehören wir dazu. Es sind: der „Mann“ und die „Frau“, das prototypische Protagonistenpaar dieses ganzen Stückwerks. Friederike Roths Ganzstück ist eine brillante Satire auf den Kulturbetrieb, aber vor allem ist es eine szenische Reflexion über die Lage der Liebe in unserer Zeit: „Daß sie sich lieben, aber daß das nicht geht.“

Fetzen aus der Alltagskommunikation werden mit lyrischen Monologen und Traumsequenzen assoziativ so verknäult, daß zwar keine erzählbare Geschichte daraus wird, das Thema aber ständig präsent bleibt. Höhepunkt ist eine stumme Szene. Sie tanzen miteinander, auf dem Plattenspieler liegt eine Platte mit Walzern von Joseph Lanner. Sie wird in seinem Arm immer mehr zur leblosen Puppe, die er hin- und herschwenkt. Nur wenn der Walzer in den Galopp übergeht und er erst richtig loslegen will, reißt sie sich los und stellt die Platte ab. Das wiederholt sich, steigert sich bis zum geifernden Ringen um den Tonarm. Der Tanz, Symbol des Gleichklangs der Seelen, wird zum Nahkampf. Die intime Zweisamkeit, die von allen Zwängen der Tradition befreit ist, soll für den Verlust aller sozialen Bindungen entschädigen und scheitert eben am Verlust dieser Bindungen. Der Hort der Harmonie wird zum Kampfplatz der Geschlechter.

Von hier aus wird deutlich, was die Aktualität von Goethes Stella ausmacht. Fernando verhält sich modern: Keine in der Tradition überkommene Regelung menschlicher Beziehung wird unbesehen akzeptiert, auch die Monogamie nicht. „Was geht dem Menschen über seine Freiheit?“, so entschuldigt die vorlaute Lucie die Kapricen ihres Vaters. Freiheit setzt sich durch auch in der Intimität.

Weder Cäcilie noch Stella verurteilen Fernando moralisch. Liebe und Moral differenzieren sich aus. Stella ist das Drama, in dem die Autonomisierung der Liebe ihren Anfang nimmt, Das Ganze ein Stück zeigt, wohin sie führt: in den permanenten Beziehungsstreß, in dem Liebe mit Hoffnungen aufgeladen und ihre Dauer untergraben wird. Individualisierung der Liebe ist bereits das versteckte Thema in Stella. Oder: Individualisierung ist so sehr unser Thema, daß wir es schon in Stella entdecken. In Stella war das Chaos der Liebe noch der Ausnahmefall. Die Postmeisterin hatte keine Zeit und keinen Sinn für amouröse Verwicklungen wie die besseren Herrschaften. Heute, bei Friederike Roth, ist der Anspruch auf Freiheit und Gleichheit demokratisiert: Das Chaos ist normal.

Günter Krämer inszeniert Friederike Roths Liebeskaleidoskop eher beiläufig, als Satyrspiel zum pessimistischen Lustspiel Stella. Der durch das dramaturgische Konzept bedingte Zwang, den Bühnenraum von Stella zu benutzen, läßt — anders als bei Krämers Bremer Uraufführung von 1986 — keinen Platz für phantasievolle Entwürfe. Das vielfältige Stückganze wird zum Nummernkabarett verkleinert. Aber Krämer hat Goethes Stück mit den Erfahrungen aus Friederike Roths Text durchpflügt und damit sowohl die Aktualität des alten Schauspiels als auch den Rang des neuen bewiesen.

J.W. Goethe: Stella / Friederike Roth: Das Ganze ein Stück. Regie: Günter Krämer. Bühne: Gottfried Pilz. Mit Ingrid André, Susanne Barth, Bert Oberdorfer. Weitere Vorstellungen: 22., 26., 29., 30.12.90 und 6., 13., 20., 27.1.91.