„Warum hat unser Land das nötig?“

■ Die Hungerhilfe rollt, aber warum, versteht so recht keiner in der Sowjetunion

„Keiner würde bei uns verhungern, auch ohne Hilfspakete aus Deutschland nicht“, meint ein älterer Passant gelassen, der gerade mit seiner Einkaufstasche vor dem Moskauer Rathaus eine Verschnaufpause einlegt. Seit einigen Tagen beherbergt ein unscheinbares Nebengebäude des Mossowjet den „Stab zur Verteilung humanitärer Hilfe“, wie die „Hungerhilfe Rußland“ hier etwas administrativ-gespreizt heißt. Der Pensionär hat nichts gegen Hilfslieferungen. Nur kann er sich nicht erklären, warum gerade jetzt? „Viel schlimmer als vor einigen Wochen ist es doch heute auch nicht“, sucht er fragend nach Bestätigung. „Vielleicht haben die Westeuropäer ein anderes Verständnis von Hunger als wir Russen.“

2.500 Tonnen Hilfsgüter sind in der Sowjetunion in den letzten beiden Wochen eingetroffen. Der „Stab“ des Mossowjet ist Tag und Nacht im Einsatz, auch am Wochenende. Ihm gehören hauptsächlich Volksdeputierte an, die gewährleisten sollen, daß die Sachen tatsächlich ihre Adressaten erreichen. Sonntag vormittag drängeln sich drei Abgeordnete in dem winzigen Büro. Anatolij Lachigin hat die Leitung im „Stab“. Alles in allem gibt er sich mit der Koordinierungstätigkeit seiner Truppe sehr zufrieden. „Bisher sind alle Lieferungen dahin gekommen, wo sie hingehören.“ Dann fingert er eine handschriftliche Skizze aus der Schublade hervor. Ein Diagramm, in dem bis aufs letzte Rechenkästchen alle an der Verteilung beteiligten Stellen verzeichnet sind. Erster Eindruck: ein gigantischer administrativer Aufwand. Angefangen bei der Kommission für humanitäre Hilfe des Unionsministerrates, über das Innenministerium und das Außenministerium hinunter bis zu den Stäben, die die Lieferungen in Empfang nehmen. Und zwischen den Kästchen schlängert sich eine Linie hindurch: das KGB.

So viele Mitwirkende und alles geht glatt? Lachigin — schon sein gutmütiger Blick prädestiniert ihn zum Vorsitzenden der „humanitären Hilfe“ — strahlt: „Alles geht glatt!“ Erklären, so scheint es, kann er sich das auch nicht ganz. Kompetenzstreitigkeiten und Neidereien, sonst übliche Erscheinungen der hypertrophen Sowjetbürokratie, gäbe es gar nicht, bisher jedenfalls nicht. Sollte die Hilfe von außen etwa das schaffen, was Präsident und Politiker seit Jahren vergeblich versuchen? Unabhängige Abgeordnete und Apparat ziehen auf einmal an einem Strang? Ein Mirakel, das der Erklärung bedarf, wenn es denn zutrifft.

Das Telefon klingelt. Eine Ladung liegt beim Zollamt auf dem internationalen Flughafen Scheremetjewo bereit. Ihre Empfängerin ist auch schon eingetroffen. Swetlana Demidowa, eine resolute Frau Anfang vierzig, vertritt den Moskauer Kinderhilfsfonds. Gemeinsam mit dem Abgeordneten Glaskow wird sie die fünf Tonnen Milchpulver und Schokolade aus der Schweiz am Flughafen in Empfang nehmen und dann an Kinderheime weiterleiten. Alle Anwesenden sind sehr dankbar für die Hilfe. Doch da ist noch etwas anderes, was sie innehalten läßt. Ein Schamgefühl. Schmach. Sie gefallen sich nicht in ihrer Rolle als Almosenempfänger. Ob die Hilfe denn wirklich so nötig ist? Nach einigem Zögern meint sie dezidiert: „Die Hilfsaktion hat uns wachgerüttelt. Jetzt müssen wir uns wirklich fragen, warum in unserem reichen Land nichts läuft. Ausreden gibt es dafür nicht mehr.“ Die Abgeordneten pflichten ihr bei, dankbar für diesen Befreiungsschlag.

Den orthodoxen Moralaposteln aus der Partei, die in der Aktion nur Erniedrigung sehen wollen, hält sie entgegen: Eigentlich müßten die zur Rechenschaft gezogen werden, die das Land in diese Lage manövriert haben. „Noch immer stellen sie die abstrakte Idee über das Wohl der Menschen.“ Doch die werden sich hüten, rückwirkend ein Schuldgeständnis abzulegen. Um die Aktion madig zu machen, werden Gerüchte in die Welt gesetzt, der Westen schicke ausgediente und verdorbene Sachen, die dort keiner mehr haben wolle. Bei den alten Menschen hofft man damit noch auf Resonanz. Denn für sie ist es besonders schmerzlich, 45 Jahre nach Kriegsende vom Besiegten versorgt zu werden.

Beim Zoll am Flughafen nimmt Swetlana Dimidowa nach anderthalb Stunden die fünf Tonnen in Empfang. Schwierigkeiten keine. Der Zollbeamte, den sie zuerst auf der Suche nach dem Lagerplatz gefragt hatte, tritt nach den Formalitäten auf sie zu: „Na, haben Sie alles gefunden? — Wunderbar.“ Das geschah in der Sowjetunion. Völlig undenkbar, bisher. Ob das etwas mit den guten Manieren des KGB zu tun hat? Klaus-Helge Donath