Unterwegs zur nächsten Geschichte

■ Alain Corneaus „Nächtliches Indien“

Indien schläft. Überall liegen Menschen. Auf dem Bürgersteig vor dem King Edwards Memorial Hospital in Bombay haben sich die Armen Kochstellen eingerichtet und Zeltplanen von der Grundstücksmauer zum Rinnstein gezogen — ein erbärmlicher Schutz für die Nacht. Aber sie schlafen voller Ruhe. Im Wartesaal erster Klasse der Victoria Station das gleiche Bild.

Friedlich schlummern Kinder in den Armen ihrer Mütter, von überall her dringt leises gleichmäßiges Atmen ans Ohr. Und gegen die Türen des schlafenden Wartesaals brandet nicht etwa die Geschäftigkeit eines großstädtischen Bahnhofs: In der Halle liegen sie auf dem nackten Fußboden, eingewickelt in Tücher, die Köpfe auf den Koffer gebettet. Ein Bahnhof schlummert.

Nur einer ist wach. Xavier Rossignol scheint ein Ziel zu haben, ganz anders als die Menschen um ihn herum. Der Europäer sucht einen Freund, der in Indien verlorengegangen ist, und weiß doch, daß er einen Fremden sucht. Zu viele Jahre liegen zwischen der Zeit der Gemeinsamkeiten und der Gegenwart, ein paar vage Anhaltspunkte, ein verworrener Brief, nichts als ein paar spärliche Zeichen von einem Menschen, der ihm längst fremd geworden ist.

Xavier ist nicht einmal klar, warum er dem Phantom seines Freundes hinterherjagt, und so begibt er sich auf eine Reise ins Ungewisse, die nach vielen unvorhergesehenen Zusammenkünften mit fremden Menschen vor allem eine Reise zu sich selbst war. Xavier Rossignol sucht Mr. Nightingale. Als er entdeckt, daß sein Freund seinen Namen so verschlüsselt hat, daß er dem eigenen gleicht, weiß er, wo er suchen muß. Aber plötzlich verliert er die Lust. Denn nicht das Finden war das Ziel, sondern die Suche nach dem anderen, der er selbst sein könnte.

Alain Courneau hat die Erzählung Indisches Nachtstück von Antonio Tabucci als Grundlage für das Drehbuch genommen. Obwohl von dem Buch die gleiche verborgene Unruhe ausgeht, entfaltet der Film dieses unbestimmte Gefühl zwischen Neugier, Angst und Fasziniation, das jeder Reisende kennt, gerade in den Bildern und Szenen, die nicht im Buch vorkommen.

Der Wartesaal in Bombay ist ein solches Bild und auch die nächtliche Zugfahrt nach Madras. Xavier liegt im gleichen Schlafwagen mit einem Mann, der sich als Peter Schlemihl vorstellt. Ein mit dem Leben davongekommener Jude, der einer Shiva- Statue hinterherreist: Die Statue des Gottes stand damals auf dem Tisch des SS-Mannes, der mit zynischer Rhetorik den Kreis des Lebens, der in der Figur dargestellt ist, auf sein Mordwerk übertrug und den Juden wünschte, nach ihrer Wiedergeburt als Herrenmenschen auf die Welt zu kommen.

Xavier lauscht der irritierenden Geschichte des Mitreisenden, Tage später hört er im Radio, daß ein Deutscher umgebracht wurde. Bei dem Mord spiele ein Shiva-Figur eine Rolle. Der Täter sei unbekannt. Xavier weiß jetzt, daß Peter Schlemihl späte Rache genommen hat an seinem Peiniger und eilt zum Telefon, bricht das angemeldete Gespräch jedoch ab. Es ist nicht mehr seine Geschichte. Reisen heißt zwar Teilhaben an dem Geschehen anderer, aber jede Einmischung verbietet sich, ja sie ist zwecklos. Wer reist, ist schon unterwegs zur nächsten Geschichte, während eine andere noch nicht abgeschlossen ist.

Corneaus Film ist eine Reise zu den Wurzeln der Reiselust und mehr noch zu der Vorstellungskraft des Kinos. Der Film gibt einem das Gefühl, Orte zu kennen, ohne jemals dort gewesen zu sein. „Ich war nie in Madras“, sagt Peter Schlemihl zu Xavier, nachdem er ihm ausführlich von den Tempeln dieser Stadt erzählt hat. Das ist das Geheimnis der Vorstellungskraft. Auch Alain Courneau beherrscht es. Sein Film besteht eigentlich nur darin — in einer Reise. Das macht ihn so spannend. Christof Boy

Alain Corneau: Nächtliches Indien. Mit Jean-Hugues Anglade, Clementine Celarie, Otto Tausig. Frankreich, 1988.