„Ein Spielfilm dauert 90 Minuten“

„Fußball der guten alten Zeit“: Eine Filmserie des österreichischen Filmarchivs läßt alte Legenden sichtbar und den Zusammenhang zwischen Fußball und Film deutlich werden  ■ Aus Wien Wenzel Müller

Brasilianische Verhältnisse auf der Hohen Warte in Wien: 100.000 Zuschauer beim Fußballspiel Österreich gegen Italien.

Das war einmal! Ein Ereignis aus vergangenen Zeiten, von 1923. Als das österreichische Team die Herzen der Landsleute noch erfreute, wozu Polster und Co. derzeit nicht imstande sind. Als die Zuschauer noch massenhaft ins Stadion strömten und sich nicht 6.000 einsame Fans, wie jetzt beim letzten Match gegen Nordirland, im weiten Rund des Praterstadions verloren.

Wir erleben das historische Spiel, das schon damals mit einem echt italienischen Ergebnis endete (0:0) in einem Stummfilm, Länge sieben Minuten. Ein Beispiel aus der Filmreihe Fußball der guten alten Zeiten, die Helmut Pflügl vom österreichischen Filmarchiv präsentiert.

Noch trennt kein Schutzgitter mit Stacheldraht das Publikum von den Akteuren auf dem grünen Rasen. Es drängt sich bis an den Spielfeldrand, wo es den Atem der Spieler im Nacken spürt. Eine einheitliche Menge, nicht aufgeteilt und scharf getrennt in verschiedene Sektoren. Alle dunkel gekleidet und mit Hüten, die bunten Accessoires der heutigen Fankultur müssen erst noch entdeckt werden. Niemand mit rot-weiß-rotem Schal um den Hals, mit der Fahne in der Hand, mit der Trompete an den Lippen.

Die Fußballer kennen noch nicht das Spiel über die Flügel beziehungsweise das Spiel ohne Ball. Wir finden sie immer gleich zu mehreren da, wo auch der Ball ist. Der Einsatz triumphiert über das Geschick. Die Tiefe des Raumes spielt keine Rolle im taktischen Konzept. Man weiß um die Bestimmung des Fußballs: Er wird nicht gestreichelt, sondern getreten. Ohne überflüssige Schnörkel. Der Torwart mit dem obligatorischen Kapperl spielt nicht auf Zeit. Jedesmal wirft er die lederne Kugel gleich wieder zurück ins Feld. Ob sie dem Mitspieler oder dem Gegner vor den Füßen landet, scheint ihn dabei nicht weiter zu bekümmern. Nicht einmal macht er einen weiten Abstoß.

Herr Pflügl ist genauso Fußball- wie Filmspezialist. Er versorgt uns mit zusätzlichen Informationen. Daß das die Kapitäne Brandstätter und de Vecchi sind, die da die Wimpel tauschen. Und daß der Schiedsrichter ein Herr Boas aus Holland ist. Wem das noch nicht genügt, wer die genaue Mannschaftsaufstellung wissen möchte, kann sie im Programm nachlesen.

Der Uridil, der Uridil...

Das filmische Dokument gibt Aufschluß, warum Uridil, jener legendäre österreichische Stürmer der zwanziger Jahre, der immer in einer Kalesche zur Oper fuhr, seinen Hut und seinen Stock aber in einer anderen Kalesche nachkommen ließ, so selten in der Teamaufstellung zu finden ist. Was in keiner Statistik steht, wo auch der ÖFB-Almanach versagt, erfahren wir hier in einem Zwischentitel: Er war krank. Lücken in der Fußball- (und Opern)-Geschichtsschreibung werden geschlossen.

Der Film liefert uns ein zeitgeschichtliches Dokument. Wie vor sechzig Jahren gekickt wurde, wie die Stimmung im Stadion, wie das Wetter war. Die Bildqualität erlaubt allerdings kein entspanntes Zurücklehnen. Es müssen noch viele Jahre ins Land gehen und viele Matches geschlagen werden, bis uns das Fernsehen zu Hause die entscheidenden Stellen in Zeitlupe und Großaufnahme beliebig oft wiederholt. In den zwanziger Jahren steckt die Aufnahmetechnik noch in den Kinderschuhen. Wir haben es mit einer statischen Kamera zu tun. Das Spiel ist immerhin schon so schnell, daß sie nicht immer mitkommt. Hinzu kommen Schwierigkeiten mit Gegenlichtaufnahmen, der Betrachter hat Mühe, den Ball zu orten.

Nächster Film, nächstes Spiel: ein Wiedersehen mit dem jungen Ernst Happel. Als Verteidiger beim Match Rapid Wien gegen Spartak Moskau, 1953. Schon damals der unverkennbar runde Schädel, nur die Zigarette fehlt noch.

Der Ton kommt in den dreißiger Jahren hinzu, zunächst nur als atmosphärische Stadionkulisse, später auch mit Kommentator. Und dann gleich gewaltig. Die Reporter vom Hörfunk wechselten zum Fernsehen — und redeten so weiter, als gäbe es überhaupt kein Bild. Eine Kostprobe bekommen wir von Heribert Meisel, Österreichs berühmtestem Sportreporter der fünfziger und sechziger Jahre, zu hören. Als würde die aufgeregte Stimme noch nicht genügen, werden die Berichte in den Wochenschauen zusätzlich noch mit schwungvoller Musik unterlegt.

Fußball und Film — mit diesem Thema beschäftigt sich der Filmhistoriker Pflügl schon seit längerer Zeit. Sie kommen etwa zur gleichen Zeit auf, Ende des 19. Jahrhunderts. Als die Bilder laufen lernten, beginnen gerade einige Enthusiasten im viktorianischen England, nach dem Ball zu treten. Sie setzen fast parallel nach der Jahrhundertwende zu einem unvergleichlichen Siegeszug rund um die Welt an. Und finden breiteste Zustimmung.

„Das Fußballspiel und der Spielfilm sind wie ein Schauspiel inszeniert“, sagt Pflügl, „nur in einer etwas anderen Form. Beide sind nach gewissen Regeln aufgebaut, halten sich an eine bestimmte Zeit und an einen vorgegebenen Rahmen: Spielfeld beziehungsweise Kinoleinwand. Fußball unterscheidet sich nur insofern vom Spielfilm, als die Akteure sozusagen wie in einem „Living theatre“ auftreten und innerhalb eines vorgegebenen Rahmens das Geschehen jeweils neu gestalten, wobei das Ergebnis nicht absehbar ist, während man den Spielfilm vorher von A bis Z durchkonstruiert.“

Man kann ergänzen: Beide kennen eigene Helden und fremde Schurken, Sieger und Versager, Schuld und Sühne. Und ist es bloß Zufall, daß ein Match genauso lang ist wie normalerweise ein Spielfilm, daß Herbergers unvergeßliches Diktum „Ein Spiel dauert 90 Minuten“ auch im Kino seine Gültigkeit hat?