Der Brüsseler Eiertanz der Eurokraten

EG in Vorbildrolle zwischen der Selbstgefälligkeit eines privilegierten Vermittlers und der harten Realität  ■ Aus Brüssel Michael Bullard

Ich wünsche mir zu unser aller Ehrenrettung, wir könnten in zwei Jahren die Worte für uns beanspruchen, die ein großer Europäer, Paul-Henri Spaak, bei der Unterzeichnung der EG-Verträge in Rom gesprochen hat: „Endlich hat es dem Abendland nicht an Mut gefehlt, endlich haben wir rechtzeitig gehandelt.“ Am Stichtag für den Golfkrieg Mitte Januar sind es genau zwei Jahre, daß Chefvisionär Jacques Delors diesen Satz formulierte. Der EG-Kommissionspräsident bezog sich nicht auf die Golfkrise, die gab es noch nicht, sondern auf den Fortgang des europäischen Einigungsprozesses. Nun aber hat sein Wunsch unverhofft an Bedeutung gewonnen. Schließlich wird sich im irkaisch-saudischen Grenzland auch die Zukunft der EG mitentscheiden.

Leicht nämlich könnten sich die US-Sandkastenspiele als falsch herausstellen und aus der anvisierten Blitzaktion ein handfester Krieg werden, und das brächte den erst letzte Woche aufgemotzten EG-Integrationsprozeß erheblich aus dem Schritt: Ein drastisch ansteigender Ölpreis würde die sowieso schon geschwächte wirtschaftliche Konjunktur völlig abbremsen und damit die Mittel verringern, die zum Ausgleich des starken regionalen und sozialen Gefälles innerhalb der EG gedacht sind. Im neuen östlichen „Hinterhof“ der Gemeinschaft hat überdies schon der bisherige Ölpreisanstieg verheerende Folgen. Ein weiteres Anziehen würde auch den Druck auf die EG verschärfen. Ähnliches gilt für den alten „Hinterhof“, die arabischen Mittelmeerstaaten, die nicht oder nur geringfügig mit dem schwarzen Gold gesegnet sind. Wahrscheinliche Folge: stärkere Abschottung der EG, nicht nur nach außen, sondern auch nach innen.

Hinzu käme die weitere Destabilisierung der internationalen Situation. Ein Krieg in der Golfregion könnte sich schnell Richtung Israel, Türkei und Sowjetunion ausbreiten. Die zaghaften Versuche der Eurostrategen, die Supermächte aus Europa hinauszukomplimentieren, hätten ein jähes Ende. Statt dessen würde Bush seinen Kriegsvasallen eine saftige Rechnung präsentieren.

Dies hindert allerdings auch den EG-Chef nicht daran, an dem Konflikt mitzudrehen: Von einem erfolgreichen Blitzkrieg verspricht er sich, wie seine Kollegen der ehemaligen Kolonialmächte in der Region, eine erneute Vormachtstellung des Westens. „Die Erpreßbarkeit der Industrieländer“ durch ihre Abhängigkeit vom schwarzen Gold ist ihnen ein Greuel; deshalb würden sie sich am liebsten des „Diebes von Bagdad“ entledigen. Bereits jetzt gehören die Eurokraten zu den Kriegsgewinnlern: Die Diskussion über eine Verlagerung von Außen- und Sicherheitspolitik in die EG hat sich seit dem Golfkonflikt beschleunigt.

Weiter gestiegen ist auch der Einfluß der EG in den arabischen Ländern. Die EG gilt als wirtschaftlicher Bezugspunkt und wirtschaftspolitisches Modell regionaler Entwicklung. Delors gefällt sich in dieser Rolle als Hoffnungsträger. Bereits im September erklärte er vor dem Straßburger Parlament: „Nichts wird nach der Beendigung der Golfkrise so sein wie vorher.“ — Die von Israel besetzten Gebiete inklusive.

Drei Ziele stehen bei der „neuen“ Nahostpolitik im Vordergrund: Sicherung der Erdölquellen, wenn es sein muß auch durch einen Deal mit Saddam Hussein; politische und wirtschaftliche Stabilisierung der arabischen Länder, um dem Einwanderungsdruck zu begegnen, aber auch, drittens, um die dortigen Märkte für Waren „Made in EG“ aufnahmefähiger zu machen. Langfristig, so der Eurochef, kann die Situation im Nahen Osten nur verbessert werden, wenn sich die EG in den arabischen Ländern wirtschaftlich stärker engagiert.

Ob die EG Mitte Januar den Wüstenkriegern die rote Karte zeigt, wird auch davon abhängen, was sie ihnen im Gegenzug anbieten kann. Wohlverhalten gegenüber der Bush- Regierung bei den Gatt-Verhandlungen? Schuldenerlaß für den irakischen Diktator oder gar eine Aufstockung der (ausnahmsweise nichtmilitärischen) Entwicklungshilfe? Dazu hatte der zuständige EG-Kommissar Abel Matutes bereits im Mai eine ehrgeizige Initiative gestartet. Ein Prozent des EG-Bruttosozialprodukts (knapp 100 Milliarden D- Mark) soll in Zukunft unter den Entwicklungsländern (50 Prozent), den Reformstaaten Mittelosteuropas (25 Prozent) und den Mittelmeeranrainern (25 Prozent) aufgeteilt werden — allerdings verknüpft mit Umwelt-, Menschenrechts- und Demokratieauflagen. Bevorzugt werden regionale Zusammenschlüsse. „Die Gemeinschaft ist bereit, ihre vierzigjährige Erfahrung mit regionaler Integration zu teilen“, sagt Matutes — unter vornehmer Verdrängung, daß er im Januar vielleicht den Förderungsantrag einer Wirtschaftsgemeinschaft Iran/Irak befürworten muß.