Interessen und Kriegsszenarien

■ Die Versuche der Europäer, Gemeinsamkeit zu demonstrieren und trotzdem weiter Einzelinteressen zu verfolgen

Englands politische Klasse, der seit jeher Widrigkeiten als blanke Ungerechtigkeit der Geschichte gelten, erscheint die Sache bis heute als geradzu himmelschreiend: Ausgerechnet das einzige Land der Region, zu dem Großbritannien diplomatische Beziehungen hatte, spielt nun plötzlich nicht mehr die Rolle, die man ihm zugedacht hat, die eines Bollwerks gegen den islamischen Fundamentalismus — und die eines expandierenden Marktes für englische Waren. Dabei war vor dem Einmarsch in Kuwait am 2.August von allen EG-Staaten nur die Bundesrepublik stärker mit Bagdad verbandelt als die Briten: Von den ungefähr 2,8 Milliarden Ecu (entspricht zirka 6 Milliarden D-Mark) jährlichen EG- Exporten bestritten die Briten eine drei Viertel, die Deutschen eine ganze Milliarde Ecu. Das Schöne für Engländer und Deutsche: Sie waren, anders als die meisten anderen EG- Länder, in ihren Importen (GB: 130 Millionen Ecu, BRD: 119 Millionen) vom Irak kaum abhängig. Beide haben im Zweistromland vor allem Absatzinteressen.

Anders die meisten anderen EG- Länder: Die Franzosen zum Beispiel führten für 441 Millionen Ecu in den Irak aus — aber für mehr als das Eindreiviertelfache Waren ein, vor allem Erdöl. Bei Italien ist das Verhältnis noch ungünstiger, nämlich nahe 1:2, die Niederlande liegen bei 1:5, Portugal hat gar ein Export-Import- Defizit von mehr als 1:10. Die Interessen dieser Länder bestehen damit vor allem in der Einfuhr von Rohöl. Noch komplizierter wird die Lage, wenn man die Entwicklung in den letzten Jahren betrachtet und auch noch die Interessen in Kuwait berücksichtigt.

So hängen die Belgier zwar nur zu einem guten Zehntel ihrer Rohölimporte vom Irak ab — aber dieses Zehntel in Jahr 1989, ist immerhin ein Drittel mehr als 1988. Aus Kuwait haben sie vordem überhaupt nichts bezogen, weshalb ihnen denn der Einmarsch des Irak gleichgültig sein konnte. Auch Frankreich hatte keine Rohölimporte aus Kuwait, aber im Gegensatz zu Belgien seine Einfuhren aus dem Irak schon 1989 stark gedrosselt (es gab anderwärts bessere Konditionen für den Großabnehmer). Gebeutelt auf beiden Seiten sind die Niederlande: Sie hatten schon ehedem mehr als ein Achtel ihrer Ölreserven aus Kuwait bezogen und 1989 gegenüber dem Vorjahr ihre Käufe im Irak kräftig aufgestockt und zwar mehr als verdoppelt auf fast ein Zehntel ihres Gesamtbedarfs.

Gut heraus ist von den europäischen Ländern im Grunde nur die Schweiz — sie importierte schon vor dem 2.August kein Öl aus der Krisenregion.

Entsprechend den Interessen vor dem Einmarsch variieren nun auch Hoffnungen und Ängste angesichts der von den in Rom am vergangenen Wochenende von den EG-Staatschefs und -Ministern diskutierten Szenarien zur Beendigung der Krise.

Dabei wurden drei Hauptvariantenen mit jeweils mehreren Variablen behandelt:

1.Die USA machen plötzlich doch ernst und greifen an. Dann gibt es drei Möglichkeiten:

—Der Irak bricht sofort zusammen.

—Der Krieg zieht sich über mehrere Wochen vehement hin und endet in einer totalen Zerstörung eines Großteils der Region.

—Der amerikanische Angriff kommt, aufgrund widrigen Wetters oder diplomatischer Interventionen oder eines Eingriffs des US-Senats ohne regelrechten Sieg zum Stehen, und es entwickelt sich auf unabsehbare Zeit ein Patt, das viele Mittel und Menschen bindet.

2.Dem Irak gelingt es erneut, sich dem Krieg zu entziehen, so daß aus der derzeitigen Situation eine „chronische Lage“ wird, bei der Kriegsdrohungen mit fingierten Verhandlungsangeboten abwechseln und noch mehrere Monate die Welt beschäftigen.

3.Es kommt zu Verhandlungen. Hier gibt es zwei Möglichkeiten:

—Der Irak zieht sich aus Kuwait völlig zurück und erhält dafür eine ansehnliche Entschädigung (in Geld, Hilfsmitteln oder Zusicherungen für künftige Aktionen).

—Der Irak zieht sich nur teilweise aus Kuwait zurück und dies

a)entweder als einseitigen Schritt, um damit die Kriegsgefahr entgültig zu bannen, oder

b)aufgrund eines Verhandlungsergebnisses, das ihm z.B. den Zugang zum Golf und den Besitz ehemals kuwaitischer Ölquellen sichert.

Auf die erste Möglichkeit — eines Krieges — spekuliert zur Zeit ein Teil der Waffenindustrie zumindest von vier Staaten: England, Frankreich, BRD und Italien (alle vier auch in die illegalen Verkäufe an den Irak zum Bau von Superkanonen, Atombomben und Nervengas verwickelt). Von den Regierungen der jeweiligen Länder können sich allenfalls die Engländer für eine solche Lösung erwärmen, während die anderen aus unterschiedlichen Gründen dagegen sind: Die BRD hat zwar Exportinteressen und würde insofern auch nach einem Krieg nicht viel anders dastehen, aber sie kann den Nato-Alliierten schon jetzt nicht verständlich machen, warum sie nicht mitschießen will — das Grundgesetz halten die meisten Partnerregierungen für eine Ausrede. Frankreich läßt nach bewährter Manier am liebsten alles in der Schwebe: Zwar würde man, pro Krieg, gerne viele Waffen in den Orient verkaufen, möchte aber — kontra Krieg — die Rolle als Beschützer der Araber vor den USA nicht verlieren. Die Italiener würden zwar gerne viel Geld beim Wiederaufbau verdienen, wissen aber nicht, wie sie sich der Schießerei selbst entziehen sollen, die ihrerseits wohl die Beziehungen zu den Arabern auf null brächte. Die kleineren Staaten wollen vor allem ihre Absatzmärkte und ihr Öl und damit ihre Ruhe wieder haben.

Die zweite Möglichkeit wird nur von Schlitzohren als günstig empfunden — da man auf Dauer weder die USA vergrätzen darf noch auf bessere Absätze verzichten möchte, müßten die meisten Staaten wieder auf die schon früher geübte Doppelmoral zurückgreifen, wonach man offiziell ein Embargo verkündet, aber insgeheim doch Güter und Waffen in den Irak liefert.

Doch auch die dritte Variante, wiewohl allgemein als „Friedenslösung“ herbeigewünscht, macht sofort Divergenzen sichtbar: Bösen Streit gab es in Rom zum Beispiel, als Engländer und Franzosen Italienern und Deutschen vorhielten, sich mit ihren mageren Einsätzen am Golf als „Bremser“ profilieren zu wollen — und als die Gescholtenen darauf mit Geheimdiensterkenntnissen antworteten, wonach Sendboten aus Frankreich und England längst dabei sind, den Irak auf alle möglichen Varianten eines Krieges vorzubereiten.

Was die diversen Krisenanalytiker am meisten verstört, ist ihre bisherige eigene Unfähigkeit, auch nur einigermaßern vorauszukalkulieren, was sich Saddam Hussein so alles einfallen läßt. Das klappte schon jetzt, im Spannungsfall, nicht, und könnte sich im Kriegsfall katastrophal auswirken. Bisher hat es bei den Nato- wie EG-Denkern nur zu einer mageren Dreipunkteliste gereicht:

—Saddam Hussein könnte mit Raketen und chemischen Waffen die Ölfelder in Saudi-Arabien bombardieren, was unabsehbare Folgen für die Ölversorgung der Welt hätte;

—er könnte Israel entweder angreifen oder zu einer Attacke provozieren und so die arabischen Staaten zwangsweise wieder allesamt auf seine Seite bringen;

—er könnte die bisher streng an der Leine gehaltenen Terrorkommandos in Westeuropa zum Einsatz freigeben, um dort eine Antiinterventionsbewegung in Gang zu bringen.

Allesamt Reaktionen, da sind sich die Analytiker einig, denen die aufmarschierten Krieger am Golf kaum etwas entgegenzusetzen haben. Es sei denn, es gelänge, die gesamte Streitmacht des Irak mit einem einzigen Schlag zu vernichten, bevor es überhaupt Reaktionen geben kann.

Doch an so etwas glauben „allenfalls Politiker“, wie sich ein englischer Militärberater entsetzte, „das könnte man nicht mal mit Wasserstoffbomben garantieren“. Die Kriegsexperten jedenfalls setzten die Chance für eine „sortige Enthauptung“ nach kurzer Diskussion an die letzte Stelle der Wahrscheinlichkeiten.Werner Raith, unter Mitarbeit von Michael Bullard, Donata Riedel, Ralf Sotschek und Alexander Smoltczyk