Afrika wird vergessen

■ Karlheinz Böhm, Schauspieler und Vorsitzender der Organisation „Menschen für Menschen“, wendet sich an die deutsche Öffentlichkeit/ Über vier Millionen Menschen sind in Äthiopien vom Hunger bedroht DOKUMENTATION

So sehr ich mich als Österreicher mit allen Deutschen über den Fall dieser Mauer des Hasses, über die Vereinigung der beiden vierzig Jahre getrennten Teile dieses Volkes freue, so sehr ich mich über die neu gewonnene Freiheit all jener Länder freue, die unter der brutalen Diktatur dieses unmenschlichen Wirtschaftssystems zu leiden hatten, so sehr bedaure ich es, daß man bei der Verschmelzung dessen, was man einmal die Erste oder Zweite Welt genannt hatte, das Armenhaus der Erde, die sogenannte „Dritte Welt“, vollkommen vergessen hat.

Die einmalige Jahrhundertchance, die Öffnung der Mauer als Versuch der Einsicht in unsere eigenen Fehler und der Erkenntnis des totalen Versagens eines gegen den Menschen gerichteten Wirtschaftssystems zu benützen und gleichzeitig Pläne zu entwickeln, die diese sogenannte „Dritte Welt“ in ein echtes Weltwirtschaftssystem mit einbeziehen würde, diese Jahrhundertchance ist bereits vertan. Und schrecklicher, als man das bis jetzt ahnt. Zwar werden wir alle aufgerufen, den unter der Not des russischen Winters leidenden Sowjetbürgern zu helfen, zwar verschrecken uns tagtäglich die Medien mit dem drohenden Konflikt am Golf, aber daß in Äthiopien zum Beispiel bereits wieder die ersten Hungertoten in ihren Dörfern beerdigt werden, das wird nicht einmal mehr auf der letzten Seite der Zeitungen erwähnt.

Der Hunger in Afrika ist nicht mal mehr eine Routinemeldung

Hunger in Afrika: Das ist inzwischen nicht mal mehr eine Routinemeldung, und allzugern wird vergessen, daß die Erste Welt dafür mit verantwortlich ist. Dabei ist die Frage, wie ein Weltwirtschaftssystem aussehen müßte, das auch Ländern wie Äthiopien eine Perspektive gibt, nicht schwer zu beantworten: höhere Rohstoffpreise. Wenn Äthiopien zum Beispiel für seinen Hauptexportartikel — Kaffee — einen angemessenen Preis verlangen könnte, dann wäre das ein möglicher Weg, an den Aufbau einer funktionierenden Infrastruktur in dem Land zu denken. Der Preis müßte mindestens drei- bis fünfmal höher sein.

Die FAO (Food and Agriculture Organisation) der UNO hat bereits vor einem Jahr Zahlen des Schreckens veröffentlicht, die im Rausch der Wiedervereinigungsfreude kaum in die Medien gelangten. Bereits im November wurde 1989 darauf hingewiesen, daß in diesem Jahr 4,5 Millionen Menschen in Äthiopien vom Verhungern bedroht sind. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Vor wenigen Tagen hat eine Abordnung der FAO festgestellt, daß eine Million Tonnen Lebensmittel nötig sind, um eine Hungerkatastrophe in den Nordprovinzen Tigre und Eritrea sowie in Hararghe zu verhindern.

Es ist gut, sich einmal zu fragen, warum denn schon wieder, sechs Jahre nach der letzten Dürrekatastrophe, bei der zwischen 500.000 und 1,5 Millionen Menschen ihr Leben verloren haben, eine neue Dürrekatastrophe das Land und seine Menschen bedroht. Und allzuleicht kommt der Verdacht auf, die Äthiopier seien faul oder dumm, oder es sei die alleinige Schuld der Regierung in Addis Abeba. Damit hätten wir ja nichts zu tun. Aber man sollte die beiden Hauptursachen der sich wiederholenden Krisen einmal genau unter die Lupe nehmen: Bürgerkrieg und Klima.

Bürgerkrieg: Wieviel der Konflikt zwischen den nördlichen Landesteilen und dem Rest dieses riesigen Landes mit der kolonialistischen Besetzung der Italiener Ende des letzten Jahrhunderts und von 1936 bis 1943 zu tun hat, ist selbst bei oberflächlicher Betrachtung leicht zu erfahren. Und bei diesem Konflikt, wie bei allen anderen, die in dieser sogenannten „Dritten Welt“ stattfinden, müssen wir uns immer wieder fragen, mit welchen Waffen in diesen Ländern gekämpft wird. Mit afghanischen? Libanesischen? Angolanischen? Oder gar mit äthiopischen? Nein, es sind immer wieder wir, die am Waffenverkauf an diese Völker, die sich meist durch unsere Schuld gegenseitig totschießen, viel Geld verdienen.

In klimatischen Übergangsgebieten wie der Sahelzone ist die Katastrophe schon da

Zum Klima: Gewiß hat die Abholzung in den letzten Jahrtausenden als einziger Energiequelle Äthiopiens zu Veränderungen beigetragen, wobei man auch dabei nicht vergessen darf, wieviel afrikanische Edelhölzer durch die italienische Besatzungsmacht und Händler nach Europa verkauft wurden. Aber ich werde nie eine Diskussion mit Dorfältesten in einem Tal in Ostäthiopien vergessen, in der wir darauf kamen, daß sich das Klima seit etwa fünf Jahren drastisch verändert hat. Der Anbau von Mais und Hirse kann die Bedürfnisse der Menschen nicht mehr decken, und fast jedes Jahr droht eine neue Hungerkatastrophe. Und auch die erstaunten Gesichter der Älteren werde ich nicht vergessen, als sie mir auf die Frage, wovon denn ihre Eltern, Großeltern und Urgroßeltern gelebt hätten, antworteten, daß es damals nie Hunger gegeben hätte.

Untersuchungen der Universität Bern bestätigen, daß sich die Dürreperioden in den letzten zehn Jahren in nie gesehener Weise häufen: Dürreperioden gab es 1973, dann erst zehn Jahre später 1984/85. Die nächsten Dürreperioden folgten im Abstand von je drei Jahren: 1987/88 und 1990/91.

Das Klimasystem, so Martin Moll von der Uni Bern, ist weltweit labiler geworden, was sich in klimatischen Übergangsgebieten wie der Sahelzone besonders drastisch auswirkt. Tendenzen wie die Bodenerosion, die durch die Rodungen und durch landwirtschaftliche Fehlnutzung zum Teil hausgemacht sind, verschärfen sich dadurch noch.

Die so oft in unseren Medien angedrohte Klimakatastrophe — sie ist also schon da und betrifft am härtesten diejenigen, die mit den Ursachen nichts, aber auch gar nichts zu tun haben. Denn daß der übermäßige Autoverkehr oder gar der Ausstoß von Chemikalien wie Fluor-Kohlenwasserstoff nicht aus Äthiopien oder einem der anderen vom Hunger bedrohten Ländern kommt, sondern wieder von uns (wie bei den Waffen), das dürfte wohl jedem klar sein!

Es ist schwer geworden, an den Hunger in Äthiopien zu erinnern. Wenn ich daran denke, mit wieviel Begeisterung 1984/85 Menschen versucht haben, den Hungertod zu bekämpfen, so liegt es nahe, verbittert zu werden.

Es darf nicht den Hilfsorganisationen überlassen bleiben, verhungernden Menschen das Leben zu retten

Es ist vielleicht interessant, sich zu erinnern, daß der durch einen Zufall (dem Ausfall eines programmierten Films) im deutschen Fernsehen gelaufene Film eines britischen Fernsehteams im September 1984 eine Medienhysterie ausgelöst hat, die zu dieser riesigen Hilfsbereitschaft geführt hat. Und es ist schrecklich, darauf warten zu müssen, bis die Bilder von den ersten Hungertoten wieder in unseren Medien auftauchen.

Wir sollten und wir dürfen nicht darauf warten, sondern wir müssen tagtäglich etwas tun. Es darf nicht Hilfsorganisationen wie „Menschen für Menschen“ überlassen bleiben, verhungernden Menschen das Leben zu retten, und ungeachtet des Wahnsinns dieses Bürgerkrieges zu versuchen, den Menschen auch eine soziale Infrastruktur aufzubauen, die bei uns zur Selbstverständlichkeit gehört, wie Schulen, Krankenstationen, Wasserstellen, Getreidemühlen und mehr. Die Regierung der reichen Länder der Welt und die hinter ihnen stehenden Wirtschaftskonzerne müssen ihr Denken verändern. Karlheinz Böhm