Verlorenes Jahrzehnt für Millionen Kinder

■ Unicef präsentierte gestern in Berlin seinen Bericht „Zur Situation der Kinder in der Welt 1991“

Berlin (taz/ap) — Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) hat die 80er Jahre zum „verlorenen Jahrzehnt“ für Kinder erklärt. Eine gestern in Berlin von Unicef- Direktor James P. Grant veröffentlichte Studie des Kinderhilfswerks kommt zu dem Ergebnis, daß selbst in den reichen Ländern wie Deutschland, Kanada, Großbritannien und den USA immer mehr Kinder in Familien aufwachsen, die unter der offiziellen Armutsgrenze leben.

„Trotz allgemein gewachsenen Wohlstands waren die 80er Jahre ein ,verlorenes Jahrzehnt‘ für Millionen Kinder in einigen der reichsten Länder der Welt“, bilanzierten die Autoren der Studie. In New York, wo allein 40 Prozent der Kinder unterhalb der „amtlichen“ Armutsgrenze leben, haben sich auch die registrierten Fälle von Kindesmißbrauch innerhalb nur eines Jahrzehnts auf 2,4 Millionen vervierfacht.

„Stille Katastrophe“ nennen die Unicef-Autoren den Skandal, daß tagtäglich weltweit etwa 40.000 Kinder an Unterernährung und ganz gewöhnlichen Krankheiten sterben. Ein Drittel aller Kinder in der Dritten Welt kann durch ständige Unterernährung körperlich und geistig nicht normal heranwachsen. Und 100 Millionen zwischen sechs und elf Jahren können nicht zur Schule gehen, wobei die Chancen von Jungens, lesen und schreiben zu lernen, immer noch doppelt so hoch sind wie die von Mädchen. Darüber hinaus müßten heute mehr als 30 Millionen Kinder auf den Straßen der Großstädte selbst für ihren Unterhalt sorgen.

In den armen Ländern hätten sich die ethischen Maßstäbe dahin verkehrt, daß Kinder dort „als erste und am meisten, nicht als letzte und am wenigsten leiden müssen“, heißt es in der Unicef-Studie.

Aus den osteuropäischen Ländern liegt der Untersuchung zufolge kein ausreichendes Datenmaterial vor. Ohne besondere Aufwendungen für Kinder lasse sich aber die voraussichtliche Entwicklung in den 90er Jahren dort leicht voraussagen: Die Studie verweist auf rapide Zunahmen von Kinderasthma und Atemwegserkrankungen in den schadstoffbelasteten Industriegebieten Ostdeutschlands, Polens, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion. Kinder seien auch die ersten Leidtragenden von Preisreformen, die zum Beispiel in Polen und Ungarn Milch und Fleisch verteuert hätten.

Ende September hatten sich auf einem sogenannten Weltkindergipfel 71 Staats- und Regierungschefs gegenseitig das „einzigartige Versprechen“ (Unicef) für die 90er Jahre gegeben, „alles dafür zu tun, daß die Kindersterblichkeit und die Unterernährung bei Kindern drastisch reduziert werden“. Ausdrücklich hatten sie erklärt, „die zur Einlösung dieser Verpflichtung nötigen Mittel zur Verfügung zu stellen“.

Mit 20 Milliarden Dollar pro Jahr sollen die Mehrkosten für Entwicklungsprogramme finanziert werden, um Überleben und Gesundheit der Kinder zu retten. Zweidrittel davon müßten von den Entwicklungsländern selbst aufgebracht, der Rest durch Entwicklungshilfe aufgewendet werden. In der gleichen Unicef- Studie heißt es aber auch, daß die Regierungen der Entwicklungsländer heute insgesamt mehr für ihre Streitkräfte ausgeben als für das Gesundheits- und Bildungswesen.

So blieb denn gestern Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei der Vorstellung des Kinder-Berichts im Berliner ZDF-Studio nur der Appell an die Spendenfreudigkeit der Bevölkerung, um den Teufelskreis von Kindersterblichkeit und Überbevölkerung zu überwinden. bg