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Rede von „Mord in Stammheim“ erlaubt

Kölner Amtsgericht spricht RAF-Angehörige und Verlegerin des 'Angehörigen Infos‘ frei/ Von den „Morden in Stammheim“ zu reden ist keine Staatsverleumdung  ■ Von Walter Jakobs

Köln (taz) — Wer im Zusammenhang mit dem deutschen Herbst 1977 von den „Morden in Stammheim“ spricht, macht sich nicht strafbar. Das entschied am Mittwoch das Amtsgericht in Köln. Auf Kosten der Staatskasse sprach das Gericht Adelheid Hinrichsen, verantwortlich für das von den „Angehörigen der politischen Gefangenen in der BRD“ herausgegebene 'Angehörigen Info‘, und die Verlegerin des GNN-Verlages, der das Blatt publiziert, Christiane Schneider, vom Vorwurf der Staatsverleumdung (§90a StGb) frei. Die auf Initiative der Bundesanwaltschaft tätig gewordene Kölner Staatsanwaltschaft hatte gegen beide Angeklagte eine Geldstrafe von 60 Tagessätzen verlangt. Gegenstand der Anklage war eine Presseerklärung der Angehörigen vom 21. 12. 1989, kaum drei Wochen nachdem der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, einem Attentat der RAF zum Opfer gefallen war. In der Presseerklärung ist von „großer Sorge um unsere Angehörigen“ die Rede, weil ein „von der Bundesanwaltschaft gesteuertes Projekt“ mit dem Ziel angelaufen sei, für den Herrhausen-Anschlag die Gefangenen „verantwortlich zu machen“. „Diese Situation jetzt beunruhigt uns in hohem Maße“, schrieben die Angehörigen, weil man wisse, daß das „Konstrukt der ,Zellensteuerung‘“ in zugespitzten Situationen schon mehrfach dazu gedient habe, „die Gefangenen massiv physisch anzugreifen bis hin zum Mord. Wir erinnern an den Mord an Ulrike Meinhof im Mai 76, dem eine jahrelange Hetzkampagne gegen sie vorausging. Und wir erinnern an den Mord an Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan Carl Raspe und Ingrid Schubert und den Mordversuch an Irmgard Möller im Herbst 77.“

Darf man von Mord reden und schreiben, auch wenn Mord im juristischen Sinne nicht erwiesen ist? Zumindest die beiden angeklagten Frauen durften es, weil, so Richter Dr. Wolfgang Hilgert, es „schon an der Schuldseite fehlt“. Damit spielte der Richter auf die in einem anderen Verfahren gegen den GNN- Verlag schon erwiesene Tatsache an, daß das Hamburger LKA regelmäßig das 'Angehörigen Info‘ nach strafbaren Handlungen durchforstet und — wie der LKA-Beamte Seeler vor Gericht bekundete — nie fündig geworden ist. Wenn aber schon die Polizeiexperten vergleichbare Formulierungen aus früheren 'Infos‘ für strafrechtlich irrelevant hielten, könne sich einer Verlegerin darauf mit Recht berufen. Was in Stammheim tatsächlich passiert sei, werde „wohl für immer im Nebel der Geschichte hängen bleiben“, sagte Richter Hilgert. Im übrigen, so der Richter weiter, müsse ein Staat, „der unsere größte Boulevardzeitung klaglos erträgt, auch ein 'Angehörigen Info‘ vertragen können“. Die beiden Angeklagten erinnerten vor Gericht an die unzähligen Widersprüche im Rahmen der staatlichen Ermittlungen um Stammheim, so wie an die damals von Franz Josef Strauß im „Großen Krisenstab“ eingebrachte Überlegung, „für jede erschossene Geisel einen RAF-Häftling zu erschießen“. Angesichts der vielen Ermittlungswidersprüche hätten die Angehörigen das Recht, „von Mord zu sprechen“, sagte Frau Hinrichsen im Gerichtssaal. Keine Rolle spielten im Prozeß die Äußerungen von Susanne Albrecht und Monika Helbing gegenüber Vernehmungsbeamten, die behauptet hatten, daß die Stammheimer RAF-Gefangenen sich aus politischem Kalkül heraus selbst umgebracht hätten.

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