Die Qual der Wahl

■ Cafés und Kneipen an den kritischen Tagen

Monatelang wird man auf ihn vorbereitet, den großen Tag X, der alle Jahre wiederkommt. Dabei kann man der anfänglichen Flut von Geschenkreklamen und Schaufensterauslagen noch relativ problemlos widerstehen. Kritisch wird's allerdings, wenn man sich angelockt durch Sternenlichtgeflimmer und Maroniduft dabei ertappt, auf einem der gnadenlos kitschigen Weihnachtsmärkte Türkischen Honig oder Lebkuchen zu verdrücken. Wenn's dann zu allem Überfluß auch noch schneit, werfen selbst die hartgesottensten Antikonsumisten das Handtuch. Weihnachten steht vor der Tür und will gefeiert werden, der Countdown läuft. Das ist nun mal so, und wenn's nicht so wäre, würde man's vermissen.

Daß bei derart langen Vorbereitungen und entsprechend hochgeschraubten Erwartungen das große Fest nicht selten haarscharf an einer Familienkatastrophe vorbeischlittert, dürfte zum Erfahrungsschatz eines jeden Mitteleuropäers gehören. Weihnachten findet eben nicht einfach am 24.12. statt, sondern es endet auch an ihm. Spätestens dann, wenn mit dem Geschenkübergaberitual der Höhepunkt der Festlichkeit überschritten ist, und man, geplättet von einem halben Zentner Mandelmakronen, Buttergebäck und Spekulatius, plötzlich den Drang zum Profanen verspürt. Ausgenommen natürlich die Schar der Gläubigen, die tief in der Nacht zu ihren Tempeln pilgern und dort den Jahrestag der einzig erfolgreichen jungfräulichen Geburt der Menschheitsgeschichte zelebrieren. Die weniger orthdoxen Nachtschwärmer zieht's jedoch meist hinab in die Sündenpfuhle der Großstadt.

Doch wohin gehen an einem Tag, an dem wenigstens einmal alles anders sein sollte? Da ist guter Rat teuer, denn die Geschmäcker sind verschieden und die Launen an einem solchen Abend unberechenbar. Kommt erschwerend hinzu, daß diesen Launen auch das Bedienungspersonal der Kneipen unterworfen ist. So steht bis heute in den Sternen, ob zum Beispiel das Fischlabor explizit Future in der Schöneberger Frankenstraße den Freunden der Zukunftsgräten am Abend des großen Karpfenessens Zuflucht gewähren wird oder nicht. Nur für Sylvester ist hier bislang alles entschieden: Ahnungslos Reingeschneite werden dann unerbittlich der schicksalsträchtigen Konstellation zwischen Radio Mars Spezial und Käthe B. ausgeliefert.

Doch zurück zum Weihnachtsabend. Hat sich das Stimmungsbarometer erst mal halbwegs eingepegelt, läßt sich je nach Gemütslage das Aktionsfeld grob zuordnen. Unverwüstliche Diva-Fans finden ab 19 Uhr ihr ersehntes Fabrikhallenflair im Künstlercafé des Tacheles in der Oranienburger Straße in 1040. Für unermüdliche Tanzbeinschwinger gibt's ab 20 Uhr am Nollendorfplatz Live-Musik im Café Swing oder ab 22 Uhr Non-Stop-Dance-Parties im Café Anfall, Gneisenaustr. 64, 1/61 und im Abraxas, Kantstr. 134, 1/12 oder ab 20 Uhr im Blue Note, Courbierstr. 13, 1/30. Wer sich gar nicht entschließen kann, wo er hingehen soll, stürzt sich am besten ins „Bermuda-Dreieck“, sprich sämtliche Kneipen zwischen Kloster, Madonna und Trash in SO 36. Schickimickis sei zur Befriedigung ihres ästhetischen Bewußtseins ab 20 Uhr die Cocktailparty im Café Sidney am Winterfeldplatz, 1/30, empfohlen. Großen Filmstars wird angeraten, ihre neuen Verträge beim Kerzenlichtgeflüster in der Filmbühne am Steinplatz, 1/12 auszuhandeln. Hoffnungslose Nostalgiker können ab 21 Uhr im Café Chintz, Kurfürstendamm 105, 1/31 stilecht bei Feuerzangenbowle wehmütig in ihrer Vergangenheit schwelgen oder zusammen mit den Romantikern der Stadt im Café der Ufa- Fabrik, Victoriastraße, 1/42 Theater- und Zirkusluft schnuppern. Die ewig Unzufriedenen und Fernwehleidenden werden schließlich auf die Endlostangos in der Pastis- Bar an den Ramblas verwiesen. Auf französische Chansons, die von verkratzten Schellackplatten oder live von noch kratzigeren Stimmbänder erzeugt durch die Luft schwirren täglich im Hafenviertel von Barcelona.

Richtig kritisch wird's allerdings erst am Tag danach, wenn man auf der Suche nach einem Frühstück am Café Übersee, Savarin oder Berio vor verschlossenen Türen steht. Ab 9 Uhr wird man sich dann im Café Lux, Goltzstr. 35 oder wieder mal im Sidney um einen Stehplatz prügeln müssen. Alles hat eben seine Grenzen, auch die Feierei. Andreas B. Hewel