: Ein gesamtdeutscher Solidarpakt
■ Von Martin Kempe
Potsdam (taz) — Ein „Schauer“ lief dem Geschäftsführer des Verbandes der holz- und kunststoffverarbeitenden Industrie Berlin Brandenburg, Dieter Borchert, am Dienstag während eines Seminars der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Potsdam über den Rücken.
Es ging um die zukünftige Tarifpolitik in den neuen Bundesländern, und was dem Arbeitgeberfunktionär die Gänsehaut über den Rücken trieb, waren die Ausführungen des IG-Metall-Tarifexperten Helmut Schauer. Denn der Gewerkschafter hatte in seinem Referat ausdrücklich die Forderung der Arbeitgeber zurückgewiesen, die Tarifpolitik, das heißt die Zuwächse im Einkommen für die abhängig Beschäftigten in Ostdeutschland, von der Entwicklung der Produktivität abhängig zu machen. „Auch im Osten kann man die Kuh nur melken, wenn man sie vorher gefüttert hat“, hatte der Geschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Peter Knevels, zuvor den Unternehmerstandpunkt klargemacht. Bisher habe es in den Ländern der ehemaligen DDR noch gar keine richtigen Tarifverhandlungen gegeben, denn am Tisch saßen nach seiner Meinung häufig „auf beiden Seiten Arbeitnehmervertreter“. Und so sei manches unterschrieben worden, was wirtschaftlich nicht tragfähig sei und deshalb letztlich zur Vernichtung von Arbeitsplätzen führe. So zum Beispiel der derzeit geltende Tarifvertrag im Metallbereich, der einen weitgehenden Kündigungsschutz bis Mitte nächsten Jahres vorsieht. Knevels plädierte dafür, flächendeckende Tarifverträge „möglichst niedrig anzusetzen“ und nach Möglichkeit, in Betrieben mit größerer Leistungsfähigkeit, einzelbetrieblich übertarifliche Zulagen zu zahlen.
Schauer dagegen will es den Unternehmern in den neuen Bundesländern nicht so einfach machen. Es gehe nicht allein um eine Tarifpolitik in den neuen Bundesländern, sondern um „Tarifpolitik in Deutschland“, also um den Versuch, die Beschäftigten in Ost und West durch gewerkschaftliche Politik in einen solidarischen Zusammenhang zu bringen. Die Arbeitnehmer im Westen, davon gab sich Schauer überzeugt, seien durchaus zu Opfern für den Osten, zu einem „gesamtdeutschen Solidarpakt“ bereit. Aber er befürchtet, daß diese Bereitschaft durch eine Regierungspolitik zerstört wird, in der die Einheitsopfer völlig einseitig auf die Bevölkerung abgewälzt werden, während die Unternehmer im Osten ihre Zusatzprofite einfahren. Die gewerkschaftliche Konsequenz: Lohnforderungen können nicht an die immer noch niedrige Produktivität der Ostbetriebe gebunden werden. Natürlich müsse es Transferzahlungen aus dem Westen, entweder über die Treuhand oder über die Arbeitsverwaltung, geben. Wie die meisten anderen Gewerkschaften strebt die IG Metall für das nächste Jahr eine Anhebung der Ostlöhne auf rund 65 Prozent des Westniveaus an.
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