Eine Art Verfallsgeschichte

Gespräch mit dem Evaluierten Hans-Peter Krüger  ■ Von Elke Schmitter

Unsere Reihe „Gespräche mit Evaluierten“ beginnen wir mit Hans-Peter Krüger, Philosophiehistoriker und derzeit Fellow am Wissenschaftskolleg West- Berlin. Promotion 1980 über Hegel. 1976 bis 1979 Lehr- und Publikationsverbot; 1987 Habilitation über Kommunikationstheorien; Forschungsstelle bei der Akademie der Wissenschaften Ost-Berlin (im Bereich Wissenschaftstheorie). Veröffentlichungen: „Kritik der kommunikativen Vernunft“, Akademie Verlag, Berlin 1990. Im Frühjahr erscheint dort „Objekt- und Selbsterkenntnis · Studien zum Wandel des Wissenschaftsverständnisses“ (Hrsg.)

taz: Weshalb bekamen Sie Publikationsverbot?

Hans-Peter Krüger: Ich gehörte 1974 bis 1976 zu einer Oppositionsgruppe von Studenten und Nachwuchswissenschaftlern für demokratischen Sozialismus an der Humboldt-Universität. Mitte der siebziger Jahre wußte man, die Reformversprechen von Honecker würden nicht in Erfüllung gehen, die eigentlichen Machtverhältnisse nicht angetastet. 1968 waren wir zu jung, um mit dem Prager Frühling zu scheitern, aber alt genug, um von den Ideen des „dritten Weges“ inspiriert zu sein. Das endete im berühmten Herbst 1976, als Biermann ausgebürgert wurde und Unterschriftenlisten kursierten und der Aderlaß in der DDR-Literatur einsetzte. Die Stasi ließ die Gruppen auffliegen und verhörte uns wochenlang, erst mit der Drohung, uns einzusperren oder abzuschieben. Schließlich hörte das auf — vielleicht auch, weil sie merkten, daß ihre Vorwürfe, wir würden für den Westen arbeiten, haltlos waren. Einige verloren ihre Jobs, für andere gab es fünfjährige „Bewährungszeiten“, und dann durfte man wieder... Mir blieb eine Angstneurose, und ich suchte mir eine akademische Nische. Opposition bedeutete ein Doppelleben. Ich suchte Theorien, die mit der Opposition korrespondierten, zum Beispiel die Frage, was Kommunikation für eine moderne Gesellschaft bedeutet, was Öffentlichkeit und soziale Bewegungen — insgesamt der Versuch, aus den Sackgassen der alten M/L-Diskussion einen Ausweg zu finden.

Haben Sie Veranstaltungen dazu machen können?

Ja, aber beschränkt auf den Freundes- und seit Gorbatschow den Kollegenkreis. Innerhalb des Instituts konnte man offen diskutieren, aber natürlich zu solchen Themen keine Volksreden halten, und auch an die Unis kam man nicht mehr heran. Wir bildeten eine Art Netzwerk der akademischen Nischen, etwa 70 Leute aus circa 20 Disziplinen.

Wer hat die Evaluierung bei Ihnen durchgeführt?

Für unser Institut waren nur die Kommissionen Wirtschafts-, Sozial- und Geisteswissenschaften relevant, jeweils circa 15 Leute. Bei uns war ein Holländer dabei — van Raan aus Leiden und ein Österreicher — Achan aus Graz, aber bis auf diese Ausnahmen war es eine Kommission von Westdeutschen. Jürgen Mittelstraß aus Konstanz war dabei, Peter Weingart aus Bielefeld, Friedrich Gethmann aus Essen, alle für Wissenschaftstheorie.

Wie lief es konkret?

Wir mußten im August mehr als 20 Fragen dem Wissenschaftsrat beantworten — Vergangenheit und Gegenwart des Instituts, Strukturen, Hauptarbeitsgebiete. Darüber hinaus hat sich jeder selbst vorgestellt, also Lebenslauf, Publikationsliste, Forschungsprojekte etc. Diese Pakete wurden von den Gutachtern zur Vorbereitung genutzt — in unserem Fall ging das gut, in anderen Fällen keineswegs. Das ist auch erklärlich, schließlich wußten die westdeutschen Kollegen von unserer Arbeit bis vor kurzem herzlich wenig. Reisen durften nur die Reisekader — also jene Leute, die die ideologische Selektion schon überstanden hatten. Erst seit letztem Herbst gab es Kontakte auch mit anderen Wissenschaftlern aus der DDR und eine Art Umdenken. Bis Sommer 90 zum Beispiel hat Manfred Buhr [ehemaliger Direktor des Akademieinstituts für Philosophie, d. Red.] noch viel Unterstützung erhalten — in Hannover wurde er noch angekündigt als „der bedeutendste DDR-Philosoph“, bekam auch Gelder für die Leibniz- Forschung zugesichert. Das hat natürlich dazu geführt, daß die Jüngeren an seinem Institut den Aufstand nicht gewagt haben — es gab noch in diesem Sommer aus solchen Gründen einen richtigen Rückschlag in der Demokratisierung. „Unsere“ Kommission hat sich von diesen alten Seilschaften gelöst. Schließlich wurde bei uns das Verfahren eröffnet: Einen Tag lang gab es Gespräche mit den sogenannten leitenden Wissenschaftlern...

Wer gehörte dazu?

Da sich unser Institut selbst neu organisiert hatte, waren das Leute, die in geheimer Wahl von uns bestätigt worden waren — im Gegensatz zu anderen Instituten, in denen teilweise noch immer dieselben Leiter ihre Funktion innehaben und keine Eigenbewertung stattgefunden hat. In unserem Fall hat das auch die Arbeit der Kommission erleichtert. Wir haben unsere Forschungsrichtungen vorgestellt, es gab Einzelgespräche und Gespräche mit den Projektgruppen ohne die Leiter. Die Fragen waren vorwiegend fachlicher Art, um herauszufinden, wie man sich selbst national und international einschätzt usw. Die politischen Nachfragen bezogen sich beispielsweise darauf, wer sich aus politischen Gründen benachteiligt fühlte und/oder es war, keine Publikationsmöglichkeit hatte, nicht Reisekader werden konnte, wer das verhindert hatte — also sinnvolle Fragen. Dann gab es Gespräche über die Neustrukturierung des Instituts, die ich ebenfalls sinnvoll fand und die im großen und ganzen zu einem Konsens führten. Offiziell, wurde uns gesagt, gibt es die Ergebnisse erst ab Mai 91, da tagt der Wissenschaftsrat abschließend, um an die Länder Empfehlungen zu geben — Entscheidungsbefugnisse haben die Komissionen ja nicht. Andererseits ist deren Arbeit die einzige fachliche Grundlage für die allfälligen politischen Entscheidungen. Deshalb war ich im Grunde auch für die Evaluierung. Ich hätte sie mir qualifizierter vorstellen können, aber die einzige Alternative wäre gewesen, den Finanzhahn einfach zuzudrehen beziehungsweise parteipolitisch auf Landesebene eine neue Instrumentierung durchzusetzen — und die hatten wir ja nun 40 Jahre lang.

In der leidigen Prüfungsfrage ist also vorzuziehen, daß Wissenschaftler ihre Kollegen prüfen und nicht Politiker... Wurden denn die Maßstäbe der Prüfenden formuliert?

Die Kriterien des Wissenschaftsrates sind uns nie mitgeteilt worden. Es gab schon zuvor Versuche anderer Institute, an diese Kriterien heranzukommen, aber die Mitteilungen lauteten nur, das sei das übliche Verfahren — der Wissenschaftsrat evaluiert ja auch in der ehemaligen BRD Forschungseinrichtungen etc. bezüglich der Frage ihrer Bezuschussung. Nach diesem Muster evaluiere man uns auch, ergänzt durch politische Fragen. Für die Kommission Geisteswissenschaften, geleitet von Jürgen Kocka, hatte ich insgesamt einen relativ guten Eindruck. Aber unser Institut stellte ja auch von vornherein eine Nische dar. Im Bereich Philosophie ist es sicher schwieriger: An philosophischen Einrichtungen in der DDR konnte man eigentlich nicht philosophieren, man mußte ausweichen in die Literatur oder die Künste. Die Philosophie stand im Mittelpunkt der parteipolitischen Instrumentierung schon seit den fünfziger Jahren — die Verhaftung des Harich-Kreises, die Zwangseremitierung von Bloch, der Fall Havemann, das Scheitern des „Prager Frühlings“ — all diese Vorgänge haben sich vor allem in der Philosophie per Selektierung ausgewirkt.

Und wer blieb übrig?

Nun, es gab die Spezialisten für „Kritik der bürgerlichen Ideologie“, die einen Wettbewerb um Westreisen veranstalteten... Die Seriösen waren in diesem Fach in der Minderheit — solche, die westliche Philosophiekritik verbunden haben mit einer Kritik am eigenen Land, wie Wolfgang Heise beispielsweise für die Lukacs-Tradition, der Bloch-Schüler Gerd Irrlitz von der Humboldt-Universität. Die Logiker waren insgesamt natürlich besser dran. Ein tragische Fall war Lothar Kühne: 1985 offiziell „verstorben“, war er durch die politischen Verfolgungen längst paranoid geworden. Lothar Kühne war auch an der Humboldt-Uni, hat über die Avantgarde-Ästhetik der zwanziger Jahre gearbeitet und sich kritisch angeeignet, was aus dem Westen kam und das verbunden mit einer konstruktiven Kritik an unserer Wirklichkeit.

Was wurde denn rezipiert, wie stand es mit gesellschaftskritischen Philosophien aus dem Westen, der Frankfurter Schule beispielsweise?

Offiziell hätte zum Beispiel die Frankfurter Schule der DDR näher liegen müssen als anderes — aber je näher die einem waren, um so größer waren auch die Berührungsängste, und um so mehr wurde offiziell gefordert, sich abzugrenzen. Als ich mich in den 80er Jahren viel mit Habermas beschäftigt habe, galt ich beispielsweise als Revisionist. Es war leichter, Foucault einzuführen...

Warum?

Zum einen war er nicht so bekannt, sein politisches Engagement ebenfalls. Zum anderen paßte er in die „Verfallsgeschichte“ westlicher Philosophien. Am Institut für Philosophie der Akademie unter der Leitung von Manfred Buhr zum Beispiel...

Was macht Herr Buhr derzeit?

Er ist im Vorruhestand. Es hat allerdings etwas gedauert, ihn davon zu überzeugen... Unter seiner Leitung herrschte die klassische Vulgarisierung von Lukacs Zerstörung der Vernunft: Alles, was in diesem Jahrhundert passiert, sei ein Abfall gegenüber den großen Leistungen der Philosophie, als die Bourgeoisie noch progressiv war, im 17., 18. Jahrhundert mit Höhepunkt bei Hegel. Die Kritik der bürgerlichen Ideologie hatte die Funktion, die Rezeption moderner Philosophie abzublocken, zu verhindern. Im besten Fall geschah dies mit Informationswert, so daß wenigstens die Inhalte der Bücher teilweise referiert werden konnten, die man nicht lesen durfte...

Was haben die Philosophen außerdem angeboten?

Tja — Lenin, Parteidokumente... und die eigenen Lehrbücher für M/L-Philosophie. Ab 87 wuchs der gesellschaftliche Druck durch die SU-Entwicklung unter Gorbatschow, es gab Anpassungsmanöver auch der Legitimationsideologen, aus denen jetzt Widerstandslegenden gebildet werden.

Das klingt, als wäre es wünschenswert, daß von der offiziellen Philosophie rein gar nichts übrig bliebe.

Dem muß ich leider strikt zustimmen. Aber es gab über die „Kaderphilosophie“ hinaus jene, die an andere Einrichtungen „emigriert“, in Nischen gearbeitet haben. Das betrifft vielleicht ein Drittel jener, die sich Philosophen nannten. Und es wäre allerdings in jeder Hinsicht — fachlich, politisch wie moralisch — fürchterlich, wenn dieses nicht-diskreditierte Drittel unterginge; und es muß eine der Hauptaufgaben der Evaluierung sein, dieses Drittel zu sichern und durchzubringen. Beide Extreme der derzeitigen Diskussion sind falsch — es wäre falsch, den wissenschaftlichen Einrichtungen der DDR jede Autonomie abzusprechen, sie blind „abzuwickeln“ [s. auch Tagesthema taz von gestern], und genauso ist die Ideologie der Besitzstandswahrung falsch, die auf langsame, vorsichtige Umstrukturierung setzt. Das kompetente, nicht diskreditierte Drittel muß gefunden werden, und darauf aufbauend müssen Stellen neu besetzt werden und zwar möglichst nicht nur mit westdeutschen Philosophen.

Wie steht es zum Beispiel mit der Redaktion der 'Deutschen Zeitschrift für Philosophie‘?

Nun, der Chefredakteur Jörg Schreiter ist immer noch nicht zurückgetreten. Er ist immerhin mit dem Segen des ZK Chefredakteur geworden. Die ursprünglichen Pläne, ein neues Herausgeberkollegium zu bilden, haben sich inzwischen gewandelt: Eine Zeitschrift nur für die FNL ist sinnlos, und unser Vorschlag war nun, ein neues Projekt zu wagen. Wir möchten ein internationales Herausgeberkollegium zusammenstellen, und zwar eines, das verschiedene Strömungen präsentiert, die sich dort auch streiten sollen.

Zum Beispiel?

Zum Beispiel Habermas und Rorty. Ich war über die spontane Bereitschaft von Jürgen Habermas sehr froh, auch Bourdieu und Ricour haben zugesagt, Nelly Motroschilowa aus Moskau. Derzeit geht aber nichts voran — zum einen, weil der Chefredakteur noch immer nicht zurückgetreten ist, zum anderen, weil das Schicksal des Verlages unklar ist.