Vollhistorisch und gesamtdeutsch

Fußballauswahl BRD/FNL besiegt Schweiz mit 4:0/ Sammer noch nicht hymnenfest, doch Thom schießt mit seiner ersten Ballberührung das erste bundesländerübergreifende Tor  ■ Aus Stuttgart Herr Thömmes

Hans-Hubert Vogts (43) sprach den großen Satz gelassen aus: „1990 wird in die Geschichte eingehen.“ Warum? „Zusammenschluß und Weltmeister.“ Zwei Knaller auf einen Schlag. Und alles kulminierte an diesem Mittwoch abend. Die Stunde null? Für Matthias Sammer schon. Der zählte „das erste Länderspiel“. Lothar Matthäus indes zählt weiter. Er hat jetzt 85, schließlich will er Franz Beckenbauer (103) noch einholen. Der kleine Unterschied.

Aber Sammer war kein einfacher Debütant, er war „Symbolfigur“ ('Heilbronner Stimme‘). Der erste Spieler aus den „fünf neuen Bundesländern“ (FNL) in einer gesamtdeutschen Fußballmannschaft. In der DDR hieß die Nationalelf (West) früher Auswahl BRD/WB, wenn Erich Beer von Hertha BSC mitkickte. WB stand für West-Berlin. Also spielte im Stuttgarter Neckarstadion eine Auswahl BRD/FNL. Sehr historisch.

Überhaupt war vieles sehr historisch. Vogts als der erste gesamtdeutsche Trainer n.Mf. (nach Mauerfall). Oder der Gegner, die Schweiz. Damals, 1950, als keiner die Deutschen mehr als Spielkameraden wollte, aus Angst, die würden wieder alles kaputtmachen, erbarmten sich die neutralen Eidgenossen als erste. Burdenski schoß das erste Tor nach dem Krieg zum undankbaren 1:0-Sieg, auch in Stuttgart. Und jetzt, zu erneutem Neubeginn derselbe Ort. Sehr symbolisch.

Nur, was wurde überhaupt gespielt? Ein Länderspiel! Kein normales, „ein besonderes Länderspiel“ (ARD). Genauer: Der Ersatz für ein abgesagtes Freundschaftsspiel, welches Ersatz war für ein entfallenes Qualifikationsspiel — der Atem der Geschichte hatte die Lose für die Europameisterschaft verweht (oder so ähnlich). Sehr kompliziert.

Deshalb waren die Schweizer auch durcheinander. Sagte ihr deutscher Trainer Uli Stielike: „Die haben das mit dem Historischen falsch verstanden und wollten das historisch schnellste Tor.“ Geschehen war die Ballpassage Häßler, Klinsmann, Völler und das 1:0 nach 28 Sekunden. Das erste gesamtdeutsche Tor n.Mf.

Es hätten mehr werden können. Denn der erste Kapitän der Auswahl BRD/FNL sorgt sich nicht nur um Ordnung im Lande („Als Familienvater muß ich ich dafür einsetzen, daß meine Töchter in fünf Jahren noch ruhig und ohne Angst über die Straße gehen können.“), sondern auch um Ordnung auf dem Platz. An dem großen Inspirator Matthäus, gerade zum ersten gesamtdeutschen Weltsportler gewählt, reichte Sammer nicht heran. Verwirrte Symbolfigur.

Etwa: „Wenn man ihn beobachtet hat bei der Nationalhymne.“ (Vogts) Da hielt er den Kopf gesenkt, als die anderen sangen. Wollte die Minuten nutzen, der 23jährige, „mein bisheriges Fußballerleben zu durchdenken“. Und? „Ihr schreibt doch sowieso, was ihr wollt!“ Sehr lernfähig.

Später kam für ihn Andreas Thom, auch einer von den FNL. Doch die Auftritte der beiden hatten nicht nur symbolischen Wert wie die der FNL-Minister in Bonn — ohne Geschäftsbereich; sie durften das linke Mittelfeld bearbeiten. Und Thom machte beim ersten gesamtdeutschen Ballkontakt gleich ein Tor. Auch historisch.

Zuvor hatte Riedle eingeköpft, danach traf der Weltsportler — ganz entspannt im Hier und Jetzt — volley mit links. Selbst wenn die Schweizer phasenweise „mit dem Weltmeister auf Du und Du“ (Stielike) spielten, es war der höchste Sieg einer gesamtdeutschen Mannschaftn. Mf...

BRD/FLN: Illgner — Berthold — Kohler Buchwald — Reuter, Häßler, Matthäus, Sammer (74. Thom), Helmer — Klinsmann, Völler (46. Riedle)

Schweiz: Brunner (46. Walker) — Geiger — Hottiger, Egli, Herr — Beat Sutter, Koller (77. Schepull), Hermann, Knup (79. Bonvin) — Türkyilmaz, Chapuisat (69. Chassot).

Zuschauer: 20.000

Schiedsrichter: Carlo Longhi (Italien)

Tore: 1:0 Völler (1.), 2:0 Riedle (67.), 3:0 Matthäus (75.), 4:0 Thom (85.)