Nachgetragene Liebe

Fiktive Briefe an berühmte Frauen der Vergangenheit: Schriftstellerinnen schrieben sehr persönliche Porträts ihrer wahlverwandten Kolleginnen  ■ Von Heide Soltau

Briefe — vor zweihundert Jahren einmal Domäne der Frauen. Ersatz für das Leben. Stummer Dialog mit der Schrift. Schreibend entzündeten Frauen ihr Feuerwerk an Gedanken, brieflich hatten sie den Mut, über ihren engen Lebensraum hinauszudenken. Heute ist der Brief zu einem altmodischen Genre verkommen. Es dürfte die Scheu vor der Eindeutigkeit sein, die uns vom Briefschreiben abhält. Mit Briefen legen wir uns fest, mit Briefen geben wir uns preis. Vielleicht gehört deshalb der Liebesbrief neben dem sogenannten Geschäftsbrief zu den wenigen Gattungen, die überlebt haben. Wer liebt, will sich festlegen und festgelegt werden — ähnlich wie der Geschäftspartner.

Liebesbriefe haben auch einige westdeutsche Schriftstellerinnen geschrieben. In der Mehrzahl Briefe an Kolleginnen, die in den letzten Jahren für die neue Frauenbewegung eine bedeutende Rolle spielten. Rahel Varnhagen, die leidenschaftliche Jüdin und Autorin von rund 10.000 Briefen, Rosa Luxemburg, die streitbare Sozialistin mit dem scharfen Verstand, die friedensbewegte Bertha von Suttner, Virginia Woolf, deren Essay Ein Zimmer für sich allein zum Kernstück feministischer Ästhetik avancierte, Ingeborg Bachmann und Sylvia Plath, jene Schriftstellerinnen, die das Leiden der Frauen in so wundersam-wunderbarer Weise beschrieben haben, sowie die Kommunistin und Antifaschistin Anna Seghers. So jedenfalls dachten wir noch vor wenigen Jahren. Hinzu kommen drei Adressatinnen, die fast ebenso berühmt sind wie ihre schreibenden Schwestern: Medea und Madame Bovary sowie die zum Mythos erstarrte Greisin Marlene Dietrich.

Eine eigenartige Versammlung von Frauen, die hier mit Briefen bedacht wird. Annette von Droste- Hülshoff, Inbegriff einer vertrockneten alten Jungfer hat nichts mit der kämpferischen Rosa Luxemburg gemein, die Pieke Biermann mit sieben hinreißend-komischen Briefe bedacht hat. Was sie eint, ist die „nachgetragene Liebe“, wie Peter Härtling es einmal bezeichnet hat: Schmerz und Bedauern, Zuneigung und Bewunderung, niedergeschrieben von einigen Schriftstellerinnen, die sich damit auf sehr persönliche Weise den Kolleginnen nähern. Der Brief erlaubt ihnen Dinge zu sagen, die das strenge Korsett der Wissenschaft sprengen und den Bereich der Fiktion berühren. Es sind Liebesbriefe, weil aus ihnen trotz aller Fragen und Zweifel eine enge, ja, sogar innige Beziehung spricht.

Mitgefühl und Trauer sprechen aus den Briefen an Irmgard Keun und Anna Seghers. Wie hätte sie den Mut und die Unabhängigkeit der Keun bewundert, schreibt Gabriele Kreis. Dann die erste Begegnung: „Ich hatte alle Deine Bücher gelesen und mir ein Bild von Dir gemacht. Du warst ,mein Glanz‘, trotz allem. Trotz der schiefsitzenden Perrücke, trotz der Flecken auf Deiner Hose, trotz des Alkohols.“ Zehn Jahre ist das her. Zehn Jahre, in denen sich Gabriele Kreis immer wieder mit der Keun beschäftigt hat. Wissenschaftlich, essayistisch, literarisch. In mühevoller Kleinarbeit entdeckte Gabriele Kreis hinter der emanzipierten und pfiffig wirkenden Irmgard Keun, eine verletzliche, einsame, nachtragende Frau, die sich um den Verstand trank, und deren Leben zuletzt fast nur noch aus Lügen bestand. Mein „Bild ist zerstört“, heißt es am Ende. „Nun laß mich dich zum letzten Mal umarmen. Oder ist es das erste Mal?“ Abschied und Neuanfang. Dialog mit einer Toten.

Dieser Briefband handelt seltsamerweise nur von Toten. Als wäre erst durch den Tod der Adressatinnen ein persönliches Verhältnis zu ihnen möglich. Flößt Leben zuviel Respekt ein? Lassen sich manche Fragen tatsächlich erst stellen, wenn wir gewiß sein können, daß die Antworten darauf ausbleiben? Vielleicht ist es Angst, die die einundzwanzig Autorinnen einen Bogen um ihre Zeitgenossinnen machen läßt, Angst vor unerwünschter Intimität. Angst vor dem Widerspruch.

Der bewegenste Brief in diesem Band ist der von Ruth Rehmann an Anna Seghers. Ihre Fragen an die große Zeugin dieses Jahrhunderts sind Fragen, die sich heute viele SchriftstellerInnen der ehemaligen DDR gefallen lassen müssen. Warum hat sie geschwiegen im Prozeß gegen ihren Freund Walter Janka? Warum hat sie zugelassen, daß er Jahre in „harter und unwürdiger Haft“ zubringen mußte? „Haben sie ihm ins Gesicht schauen können?“ Ruth Rehmann schreibt sich die Enttäuschung von der Seele. Wie konnte es angehen, daß diese begabte, politisch integere Frau, die Deutschland während des Dritten Reiches verließ, weil ihr auch der kleinste Kompromiß unerträglich gewesen wäre, wie konnte es angehen, daß sie die Politik im realsozialistischen Teil Deutschlands klaglos hinnahm? Gewiß, die stolze, schöne Frau verstummte literarisch. Als hätte der Zwang zur Solidarität mit dem Regime Anna Seghers gefesselt, sie literarisch mundtod gemacht. Über zwanzig Jahre Kulturfunktionärin der DDR — Ruth Rehmann entschuldigt nichts, sie bedauert, trauert. Und doch: Damit ist für sie die Schriftstellerin Anna Seghers nicht erledigt: Die junge Autorin der Erzählungen Grubetsch und Aufstand der Fischer von St. Barbara und die Frau, die vor den Nazis ins Exil floh. Ruth Rehmann schaut sehr genau hin, prüft, was sie beerben kann. Meine „Verehrung bezieht sich auf Unzerstörbares“, heißt es am Ende ihres Briefes, fast trotzig. Und stolz.

Vergessene Briefe an unvergessene Frauen, so der Untertitel dieses Sammelbandes, dem die beiden Herausgeberinnen Gabriele Kreis und Jutta Siegmund-Schultze als Titel ein Goethezitat gegeben haben: Es geht mir verflucht durch Kopf und Herz. Und Kopf und Herz berühren auch die Briefe, Kopf und Herz der Autorinnen. Sie geben sich preis mit ihren quälenden Fragen und Einwänden. So etwa Carola Stern in ihrem Brief an Bertha von Suttner, aus dem neben Anerkennung deutlich ihre Abneigung gegen deren adliges Gehabe und Abneigung gegen die pathetische Sprache der von Suttner. Da schreibt eine, die den Kampf mit der Sprache kennt. Stellenweise lesen sich die Briefe wie ein intimes Journal aus der Werkstatt von Schriftstellerinnen. Denn natürlich ist jeder Brief auch Selbstporträt der Schreiberinnen.

Nur schade, daß sich Herausgeberin Jutta Siegmund-Schultze so beflissen vom Feminismus abgrenzt, als handele es sich um etwas Unanständiges, Ansteckendes. Das ist ebenso überflüssig wie albern. Wenn manch einer das Buch für feministisch hält, warum denn nicht? Liebe Jutta Siegmund-Schultze, um vollgenommen zu werden, brauchen wir diesen Abgrenzungsschnickschnack nicht. Uns reicht das Wort. Wir beziehen uns lieber auf die Schrift. Deshalb meine Empfehlung an alle Leserinnen und Leser: Überschlagen sie diesen Brief, aber nur diesen einen, und beginnen die Lektüre mit Brief Nummer zwei.

Gabriele Kreis und Jutta Siegmund-Schultze (Hrsg.): Es geht mir verflucht durch Kopf und Herz — Vergessene Briefe an unvergessene Frauen. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1990, 36 DM