: Der verlogene Handel auf dem Geiselbasar
Während der Bagdader Brandt-Misson wurden Humantitätsgefühle und Tränendrüsen strapaziert/ Etliche Experten, die der Unterhändler mitnehmen durfte, hatten für deutsche Unternehmen kassenfüllend Iraks Militärmaschinerie hochgepäppelt/ Saddams Lieblinge waren bereits frühzeitig ausgereist ■ Von Thomas Dreger
Nachdem der Ingenieur Klaus Raab am 25. November die Gangway des Jumbos der „Iraqi-Airways“ hinabgestiegen war, der ihn nach Frankfurt gebracht hatte, wußte er nicht nur Positives zu vermelden. Die soeben freigelassene Geisel beschwerte sich, daß „diejenigen, die etwas mit Waffenhandel zu tun hatten“, schon vor ihm aus dem Irak ausreisen durften. „Die hatten Sondertickets. Wir, die Unschuldigen, sind als letzte rausgekommen.“
Der fünfzigjährige Klaus Raab hielt sich am 2.August, dem Tag der irakischen Invasion, in Kuwait auf. Nur durch Glück entging er den irakischen Soldaten, weil er mit einem Wagenkonvoi des DDR-Botschafters in Kuwait nach Bagdad gefahren war. Dort wohnte er auf dem Gelände der DDR-Botschaft, die nach dem 3.Oktober in „Wirtschafts- und Kulturabteilung der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland“ umgetauft wurde — ein Trick, um den dort Untergeschlüpften weiterhin diplomatischen Schutz gewähren zu können. Raab mußte fürchten, von irakischem Militär oder der Geheimpolizei aufgegriffen und als „menschlicher Schutzschild“ an einen sogenannten strategisch wichtigen Punkt im Land verschleppt zu werden. Aus Angst vor diesem Schicksal wagte sich Raab zuletzt nur noch zu den regelmäßigen Treffen in der bundesdeutschen Botschaft vor die Tür und zu gelegentlichen Parties ins „irakisch-deutsche Kulturzentrum“, um den Frust und die Angst abzuschütteln, sprich zu ertränken.
Dort lernte er einige der im Irak festsitzenden Deutschen kennen, denen — ebenso wie ihm — die Ausreise verweigert worden war, die meisten von ihnen Geschäftsleute, Ingenieure und Techniker. Nur wenn eine entsprechende Menge Alkohol ihnen die Zunge gelöst hatte, begannen sie über ihre Beschäftigung im Irak zu sprechen. Mit gutem Grund. Denn ihre Geschäfte standen fast immer mit dem Militär in Verbindung. So prahlte der Ingenieur einer großen deutschen Baufirma, er habe für den Irak eine Munitionsfabrik aufgebaut.
Zwei Klassen von Deutschen
Anders als Klaus Raab gelang es Martin Ritschel nicht, sich dem Zugriff der irakischen Armee zu entziehen. Ritschel, der seit 14 Jahren mit seiner Familie in Kuwait lebte und dort eine Reinigung betrieb, wurde von irakischen Soldaten mit vorgehaltenen Kalaschnikows aus seinem Haus geholt und nach Bagdad gebracht. Nach einigen Tagen in dem Luxussicherheitshotel „Melia Mansour“ führten ihn dann gutgekleidete junge Männer des irakischen Sicherheitsdienstes freundlich, aber bestimmt zu einem Armeefahrzeug mit verdunkelten Fenstern — Martin Ritschel wurde verschleppt. Drei Monate lang pendelte er zwischen Giftgasfabriken, Waffenschmieden und einer Atomforschungsanlage hin und her, um dort jeweils als „menschlicher Schutzschild“ zu dienen.
Nachträglich unterscheidet Ritschel zwischen „Kuwait-Deutschen“ und „Irak-Deutschen“: „Die Kuwait-Deutschen wurden fast alle veschleppt oder haben sich versteckt. Die waren wirklich Geiseln. Die Irak-Deutschen hingegen durften nur das Land nicht verlassen, sich aber frei bewegen. Das waren doch keine richtigen Geiseln!“
Tatsächlich verbrachten die meisten Deutschen, die sich am 2. August im Irak aufhielten, ihre „Geiselhaft“ in Privatwohnungen oder luxuriösen Hotels, die ihre Firmen notgedrungen bezahlten. Diese „Gäste des irakischen Volkes“, wie Saddam Hussein sie nannte, lebten in einem goldenen Käfig, gequält nicht von physischen, wohl aber von psychischen Problemen, wie der Angst, vielleicht doch noch verschleppt zu werden oder bei einem Angriff auf Bagdad getötet zu werden. Einige von ihnen gingen ihrer geregelten Arbeit nach, zum Teil freiwillig, um nicht den ganzen Tag an der Hotelbar zu verbringen, zum Teil auf Druck ihrer deutschen Firmen und deren irakischen Vertragspartnern, denn — Krise hin, Krise her — gezahlt wird nach wie vor nur für vollständig ausgeführte Aufträge.
Da die meisten der im Irak arbeitenden Deutschen ihr Know-how beim Bau von Flughäfen, Bunkern, Munitions- oder Giftgasfabriken einbrachten, kam es an diesen strategisch wichtigen Arbeitsplätzen zu überraschenden Begegnungen. Ein aus Kuwait verschleppter Deutscher konnte in seinem Gefängnis in der Raketenfabrik Tadschi Ingenieuren der Firma „Thyssen“ bei der Arbeit zusehen, und ein Techniker der Krefelder Firma „SPS Siempelkamp“ reparierte eine von seinem Unternehmen gelieferte Granatenpresse, während auf dem Werksgelände Verschleppte unter Bewachung Ausgang hatten.
Trotz der relativen Bewegungsfreiheit fühlte sich keiner der „Irak- Deutschen“ wohl. Der Repräsentant eines großen deutschen Elektrounternehmens mit jahrelanger Irak-Erfahrung, riet seinen Leidensgenossen: „Muckt hier bloß nicht auf, sonst machen die Iraker Hundefutter aus Euch. Versprechen haben in diesem Land keinen Wert, und wen ihr heute für euren Freund haltet, ist morgen Mitarbeiter des Geheimdienstes.“ Der Kaufmann empfahl, sich möglichst nicht aus dem Haus zu wagen und für den Kriegsfall im Garten eine Art Schützengraben auszuheben.
Diese „Gäste des irakischen Volkes“ hatten zum Teil in den letzten Jahren ein komfortables Leben im Irak geführt. Als Vertreter von ausländischen Firmen verfügten sie über Häuser, Autos und Einkommen, von denen einfache Iraker nur träumen konnten. Die eiserne Faust, mit der Saddam Hussein das Land regiert, berührte sie nicht. Bisher hatte die irakische Führung sie, die seit Jahren mit allen Tricks halfen, den Irak zu einer der größten Militärmächte der Dritten Welt zu machen, als gute Freunde behandelt.
Aber die Freundschaft endete für die meisten am 2.August, dem Tag des irakischen Einmarsches in Kuwait. Danach durften westliche Ausländer und Japaner das Land lediglich mit Sondergenehmigungen verlassen, die der Präsident persönlich unterschrieben hatte. Einige „Gäste“ kamen in den Genuß ein solchen Schreibens vom Bagdader „Ministerium für Industrie und Militär“, darunter zwei italienische Mitarbeiter der Waffenfirma „Beretta“. Sie wurden noch im August von einer irakischen Militäreskorte an die jordanische Grenze gebracht und mochten nach ihrer Rückkehr in Rom keine Angaben über die Umstände ihrer Freilassung machen.
Ein italienischer Student, der als Stipendiat der irakischen Regierung eingereist war und unerwartet zum „Gast“ wurde, empörte sich damals: „Wenn das alles System hat, bin ich wohl der letzte, der hier rauskommt — nur weil ich keine Pistolen verkaufe.“
Die kleinen Fische durften länger zappeln
Dafür, daß die Sache System hatte, spricht, daß sich auch einige hochrangige deutsche Industrielle mit Sondergenehmigungen aus dem Staub machten. Wie viele es waren, läßt sich schwer schätzen. Bonns Botschafter in Bagdad, Richard Ellerkmann sprach nach der Ausreise von Frauen und Kindern im September 1990 von rund 400 verbliebenen Deutschen im Irak und in Kuwait. Als dann zwei Monate später Willy Brandt nach Bagdad reiste, waren bei der Botschaft nur noch 332 Namen registriert.
Die Entscheidung, wer gehen durfte, und wer bleiben mußte, wurde von Saddam Hussein selbst gefällt. So durften ein deutscher Architekt und ein Monteur unerwartet ausreisen, nachdem Saddam Hussein persönlich ihre Baustelle besichtigt hatte und sich über den Fortschritt der Arbeiten trotz Embargo zufrieden zeigte.
Die wirklich guten (Geschäfts-)Freunde der Saddam-Regierung, seien wohl vor dem 2. August gewarnt worden, vermutet ein Vertrauensmann der Brandt-Mission, denn immerhin hatten sich im Durchschnitt rund 700 männliche Bundesbürger im Irak aufgehalten, zu Beginn der Krise waren es aber nur noch etwa 400.
Die in Bagdad Übriggebliebenen waren noch einige Touristen, Vertreter von Firmen, die nicht hoch genug in Bagdads Gunst standen oder Ingenieure und Techniker, die ursprünglich nur für einige Tage oder Wochen im Irak bleiben wollten, um eine Baustelle zu überwachen, Maschinen in Betrieb zu nehmen oder sie zu warten. Daß sie zum überwiegenden Teil im Militärbereich gearbeitet hatten, war ihnen im Prinzip egal. So beschrieb ein Schweizer Techniker, der seit zwei Monaten im Hotel „Sheraton“ festsaß, seinen Arbeitsplatz so: „Was interessiert es mich, wo ich gearbeitet habe. Immer wenn ich in die Halle kam, um eine Maschine zu warten oder zu reparieren, wurden zwischen den Maschinen Trennwände aufgestellt, so daß ich nicht sehen konnte, was sonst noch in der Halle stand. Das Werkstück, an dem die Maschine arbeitete, war mit Plastikplanen abgedeckt. Aber ich habe natürlich schon erkannt, daß unter der Plastikplane ein Panzerturm versteckt war.“
Viele der Festgehaltenen hofften zu Beginn der Krise, gerade wegen ihrer besonderen Dienste, die sie für die Iraker geleistet hatten, bald entlassen zu werden. Als sich diese Hoffnungen nicht bewahrheiteten, bekamen es einige der „Gäste“ gerade wegen ihrer intimen Kenntnisse mit der Angst zu tun. Ein Monteur, der an einem geheimen Bunker arbeitete, zitterte im November: „Vielleicht können die mich ja gar nicht rauslassen, weil ich genau weiß, wo sich der Saddam versteckt, wenn es kracht.“ Festgehalten wurde aber auch alle, die für die irakische Seite noch von Nutzen waren. So wurden die Vertreter eines Landmaschinenherstellers immer wieder für Reparaturen eingesetzt, denn der Irak sollte zu Zeiten des Embargos bei der Lebensmittelproduktion autark werden.
Journalisten prägten die Bezeichnungen „special guest“ für verschleppte Ausländer und „guest“ für solche, die sich im Land frei bewegen konnten, es aber nicht verlassen durften.
Iraker mußten Häuser für „special guests“ räumen
Die Entscheidung, wer in welche Kategorie kam, traf die irakische Führung nach bürokratischen Gesichtspunkten. Ausschlaggebend waren Einreisedatum und Aufenthaltsort am 2.August sowie die Nationalität. Grundsätzlich unterlagen alle Ausländer, die sich am 2.August im Irak oder Kuwait aufgehalten hatten, der Ausreisesperre. Ausländer, die später einreisten, ebenso wie Journalisten, die über die Festgehaltenen berichten wollten, Politiker und Firmenvertreter, die deren Freilassung erwirken wollten oder Angehörige, die ihre festgehaltenen Verwandten besuchten, durften auch wieder ausreisen. So waren Journalisten, die vergeblich versuchten, ihre Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern, gezwungen, dem Irak den Rücken zu kehren, während „Gäste“, die das Land so schnell wie möglich verlassen wollten, gegen ihren Willen bleiben mußten.
Den Status „special guest“ erlangten alle US-Bürger, die sich nicht rechtzeitig auf das Gelände ihrer Botschaft flüchteten und im Irak oder im besetzten Kuwait in die Hände der Iraker fielen. Nach dem Einmarsch in Kuwait galten alle Amerikaner als Feinde und mußten damit rechnen, verschleppt zu werden. Von den meisten Westeuropäern wurden nur diejenigen verschleppt, die man in Kuwait aufgegriff, Briten und Japaner zum Teil auch, wenn sie im Irak lebten.
In eine Zwickmühle gerieten sechs englische Architekten, zuständig für Verzierungen am Gästehaus des Präsidenten. Die irakische Regierung versprach, sie gehen zu lassen, sobald sie ihre Arbeit beendet hätten. Das aber konnten sie nicht, da aufgrund des Embargos das Material auf Baustelle ausgegangen war. Daraufhin quartierten die irakischen Behörden die Leute in einem Fünfsternehotel ein und forderten von der britischen Regierung, die Rechnung dafür zu begleichen, sonst würde man die „guests“ in die Kategorie „special guests“ herabstufen.
Saddam Hussein erklärte im August, die „Gäste des irakischen Volkes“, die als „menschliche Schutzschilde“ eingesetzt würden, sollten nicht schlechter untergebracht werden, als die irakische Bevölkerung. Dabei ging es Saddam Hussein aber weniger um den Schutz seiner Landsleute, als um den Erhalt seiner Kanonengießereien und Giftgasfabriken. Einige Iraker wurden sogar samt Familien aus ihren Häusern geworfen, da diese in der Nähe von strategisch wichtigen Objekten standen und nun zu „Gästehäusern“ umfunktioniert wurden. Die Mehrheit der Verschleppten aber brachte man direkt in Fabrikhallen oder Baracken unter. Einige mußten den Aufenthaltsort bis zu fünfzehn Mal wechseln. Ihre Behandlung richtete sich offenbar nach der Nationalität.
Während Europäer nach ihrer Freilassung meist von „anständiger Behandlung“ sprachen, hatten es die Amerikaner mit härteren Haftbedingungen zu tun. Die US-Botschaft in Bagdad erhielt im Oktober einen von Franzosen aus einem Camp geschmuggelten Brief, in dem sich internierte Amerikaner darüber beschwerten, daß sie direkt neben riesigen Gastanks festgehalten seien, die bei dem kleinsten Funken in die Luft fliegen könnten. Das Essen im Lager sei schlecht und unzureichend. Post würde entgegen anderen Zusagen nicht befördert, und der psychische Druck in „dem irakischen Gulag-System“ sei nicht auszuhalten.
Für die „Gäste“ war es ohnehin nur schwer nachvollziehbar, daß sie wegen der Außenpolitik ihrer jeweiligen Regierung festgehalten wurden. Als dann diese Regierungen jedoch klarstellten, daß sie nicht bereit seien, mit dem Irak über die Freilassung der eigenen Bürger zu verhandeln, löste das Empörung aus. Italiener besetzten ihre Botschaft in Bagdad, um die Regierung zum Handeln zu bewegen. Einer der Botschaftsbesetzer beschwerte sich: „Seit Jahren bin ich ein Gegner der italienischen Regierung, und nun sitze ich hier fest, stellvertretend für diese Regierung!“
Business as usual
Deutsche fühlten sich ebenfalls von ihrer Regierung brüskiert. Ein Fahrstuhlmechaniker drohte, seinen Paß wegzuwerfen und „Iraker zu werden“, falls die Bundesregierung weiterhin untätig bleibe, und ein Geschäftsmann beklagte sich: „Vor zwei Jahren war Genscher hier auf der Bagdad-Messe und hat die deutsche Industrie aufgefordert, mehr im Irak zu investieren. Jetzt sitzen wir hier fest, und Herr Genscher kennt uns nicht mehr.“
Ebenso wie beim Festhalten und Internieren von Ausländern, kalkulierte Saddam bei ihrer Freilassung kühl. Der österreichische Präsident Kurt Waldheim durfte nach seinen Staatsbesuch in Bagdad alle seine Bürger mit nach Hause nehmen. Oppositionspolitiker, wie Jesse Jackson oder Elder Statesmen, wie der Japaner Nakasone, erhielten größere Gruppen, weniger wichtige Delegationen, wie Friedensinitiativen, nur kleine Gruppen.
Die Freilassungen terminierte Saddam passend, um die größtmögliche Verwirrung in der „Anti-Irak- Koalition“ zu erzeugen. George Bush wollte seinen Verbündeten Helmut Kohl in Paris gerade auf eine gemeinsame harte Linie einschwören, als dieser von der Freilassung seiner Bürger im Irak erfuhr. Die Angehörige eines damals noch festsitzenden Deutschen flehte vor dem Fernseher, daß Kohl in Paris „bloß das Maul hält“, um die versprochene Freilassung nicht zu gefährden.
Der irakisch-deutsche Geiseldeal ist vorbei — und die Geschäfte gehen weiter. Mitarbeiter von Strabag arbeiten weiter am Flughafen in Basra, der im Kriegsfall militärisch genutzt wird. Siemens hat noch immer jemand in Bagdad für sich arbeiten, und ein Mannesmann-Mitarbeiter, dem Willy Brandt zur Heimreise verhalf, soll im Februar wieder in den Irak, denn die Verträge müssen verläßlich erfüllt werden — auch im Krieg.
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